Saemtliche Werke von Jean Paul
jetzt wiederum auseinander. Der Geist entbehrte des festen Mittelpunktes, und die schöpferische und gestaltende Kraft hatte ihre zentrale Stellung verloren. Wohl wuchsen große Talente auf, und sie beeilten sich, vor ihrem Aufstieg dem Geiste Jean Pauls ihre Reverenz zu erweisen. Graf Platen, Friedrich v. Raumer, Gustav Theodor Fechner sandten ihm Zeichen ihrer Verehrung; aber schon diese Namen zeigen, auf wieviel verschiedenen Zweigen sich der schaffende oder wirkende Genius niederzusetzen gezwungen war. Was auch noch von bedeutenden Erscheinungen in den nächsten Generationen auftauchen sollte, keine saß mehr im Mittelpunkt der Dinge. Die kritische Teilung Kants in den denkenden, handelnden und fühlenden Menschen trieb auch die Wirklichkeit auseinander. Die Spezialisierung des 19. Jahrhunderts warf bereits ihre Schatten voraus. Weltbürgertum ohne Bodenverwachsenheit, Nationalismus ohne Humanität, Mystizismus, der nicht befruchtend ins Leben zurückschlug, Freiheitsbegeisterung ohne geistige Zucht, Kunst als eine technische Angelegenheit, Lebensführung ohne Verbundenheit mit einem Volks- oder Kulturganzen – das war das Bild der heraufkommenden Zeit. Es fehlte nicht an hohen und höchsten Begabungen, nur an dem geistigen Mittelpunkt, der sie alle zur Einheit verband; nicht an glänzenden Leistungen, nur an einem gesammelten und sammelnden Lebensgefühl. Was jetzt noch kam, war im besten Falle Angelegenheit eines Kreises, einer Partei, nicht mehr der Nation. Die Triumphe, die Jean Paul auf seinen Reisen erlebte, hatten ihn noch eine kurze Zeit über das Fehlen einer kulturellen und völkischen Gemeinschaft hinwegtäuschen können, obwohl es auch hier schon deutlich wurde, daß die Ovationen in erster Linie seinem Namen, nicht mehr seinem Werk galten. Der Tod seines Sohnes aber zeigte ihm, daß die Zeit nicht mehr zu entgegengesetzten Polen spannte, sondern zerrissen war. Es führte keine Brücke mehr zwischen Tat und Gedanken, zwischen Glauben und Kraft.
An einem Septemberabend 1821 stürzte Max Richter, in völlig erschöpftem Zustand aus Heidelberg kommend, plötzlich, ohne vorherige Anmeldung in die Stube und gab drei Tage später in den Armen des Vaters seinen Geist auf. Schon in München hatte Max eine Periode der Schwermut und des Mystizismus durchlebt. Die durch seinen Vater unglückseligerweise vermittelte Bekanntschaft mit Franz Baader sollte ihn bald von neuem in weltabgewandte Aszese hineinführen. Der Vater schickte ihn nach Heidelberg in der Hoffnung, daß dort der Einfluß des Freundes Voß den innerlich gebrochenen Jüngling dem Leben wiedergewinnen würde. Aber gerade Heidelberg wurde für Max verhängnisvoll. Er schloß dort mit Anselm Feuerbach Freundschaft, der noch tief in seiner mystischen Periode befangen war, aus der er sich erst im Laufe des nächsten Jahres herausarbeiten sollte. Der dritte aus dem »Parzen- und Furienverein«, wie Jean Paul es nannte, war Christian Kapp, Sohn eines Baireuther Konsistorialrats, mit dem Jean Paul befreundet war. Kapp, den Max Richter von Baireuth her kannte, schloß damals seine Freundschaft mit dem jungen Feuerbach, die seinen Namen später bekanntmachen sollte.
In langen Briefen rang Jean Paul um die Seele des Sohnes. Als Max sein Studium der Philologie wie Feuerbach mit der Theologie vertauschen wollte, setzte er diesem Plan ein entschiedenes Nein! entgegen. »Die Theologie ist nur eine meinende Wissenschaft; die rechte und wahre Gotteslehre findest du in der Sternkunde, Naturwissenschaft, Dichtkunst, in Plato, Leibniz, Herder, eigentlich in allen Wissenschaften auf einmal.« Auch vor der Vertiefung in Hegel, diesen »dialektischen Vampir«, warnt er, und ebenso muß er dem Sohn entgegentreten, als dieser ihm voller Begeisterung von der Tat Sands schreibt. »Nach seinem Grundsatz dürfte jeder Katholik Luthern, Voltairen und jeden großen protestantischen Minister ermorden.« Aber der Vater hatte, obwohl er von dem Sohn angebetet wurde, jede Einwirkung auf ihn verloren. Vielleicht suchte Max gerade das dem Vater Entgegengesetzte auf, um seine Selbständigkeit einem solchen Vater gegenüber zu behaupten. Die Kluft der Generationen war zwischen ihnen aufgerissen, zu viel Neues stürmte auf den jungen Menschen ein, und unmöglich konnte der Vater, in seiner eigenen Welt wurzelnd und noch immer schöpferisch tätig, dem Sohn auf allen diesen neuen Pfaden folgen, geschweige denn ihm zum Führer dienen. Jedes Geschlecht muß in Irrtum und Erfolg seine
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