Saemtliche Werke von Jean Paul
der Personendarstellung von Anfang an auf Eroberung neuen Stoffgebietes aus. Wir brauchen uns nur der Personen einer Nebenarbeit wie etwa der »Kirchweih zu Obersees« zu erinnern, um innezuwerden, welche Fülle ganz neuer Gestalten bei Jean Paul zum erstenmal in die Dichtung eintritt. Diese Art, Menschen zu schildern – überhaupt in der humoristischen Dichtung begründet –, hat im »Komet« ihren Höhepunkt erreicht. Wir wissen, daß von jetzt ab das Erfassen von Menschen überhaupt keine Grenzen mehr hat. Es gibt erst von jetzt ab keinen noch so unbedeutenden Charakter, der nicht als interessanter Stoff in die Darstellung eingehen könnte. Erst vom »Dr. Katzenberger« und dem »Komet« ab beginnt das neue Jahrhundert der erwachenden Völker und Volksschichten. Das Tor ist aufgerissen, jetzt erst können alle hineinströmen. In der Renaissance begann das Erwachen des Individuums. Aber wieviel Typisches hing diesem Individuum noch an! Erst jetzt hat es seinen vollen Ausdruck gefunden. Von hier geht die direkte Linie zu Wilhelm Raabe, Fritz Reuter, aber auch zu Gerhart Hauptmann. In Jean Paul hat das ausgestreute Leben in seinen letzten Individualitäten und Spielarten sich zum erstenmal selbst begriffen.
Kein Weltgebäude sollte im »Komet« errichtet werden, in freiem Spiel der Willkür sollte eine Satire der Zeit erstehen. Nicht auf das tiefe, sondern auf das farbige und vielseitige Erfassen des Lebens kam es dem Dichter an. In letzter Freiheit sollten Gestalten durcheinanderwirbeln, keiner gedanklichen Konstruktion untertan. Immer wieder müssen wir den »Titan« gegen den letzten Roman halten. Im »Titan« wurde die Zeit im tiefsten begriffen und an der Wurzel gepackt, im »Komet« sollte nur freier Humor herrschen. Und doch, wie wird auf einmal der letzte Schleier auch hier von den Dingen gezogen! Denken wir an den Schluß des dritten Bandes. Marggraf trifft mit dem Lukasstädter Hof unter den komischsten Voraussetzungen in dem Bildersaal zusammen. Eine Reihe von komischen Mißverständnissen ergibt sich. Aber auf einmal ist die Szene dennoch voller Bedeutsamkeit. Welche Versammlung irrsinniger Vorstellungen platzt hier aufeinander! Der seltsame Raphael, der das Gemälde des Veronese als Kopie seiner Traumbilder empfindet und in wahnsinniger Intuition urplötzlich an Marggrafs heimliches Idealbild, die fast nur geträumte Prinzessin Amanda, rührt. Dieser seltsame Jüngling mit dem zarten Angesicht und dem lodernden Auge, umringt von den Gestalten des Hofs. Dazu der Fürst, der in phantastischer Verblendung nur die Hofetikette verletzt wähnt und auf standesgemäße Haltung drängt. Das irrsinnige Wechselgespräch zwischen Marggraf und der Prinzessin. Dazwischen der aufgeregte Worble. Und dann, als sie hinaustreten, die Begegnung mit dem Urbild phantastischer Verstiegenheit: dem seltsamen Ledermenschen, der alles Menschliche in Konflikt stellt mit der teuflischen Tiernatur der Schöpfung. Ursprünglich sollte diese Kainsgestalt nur die entfesselte Phantasiekraft auf ihrem Gipfelpunkt darstellen. Aber auf einmal wird in ihr an die Grenzen der Schöpfung überhaupt gerührt. Eine ganz fremde und neue Welt bricht ein. Was auch bis dahin an Verstiegenheiten dargeboten wurde, alles vollzog sich doch noch immer unter der Anerkennung des Menschlichen, wenn auch sonst alle Grenzen ins Schwanken geraten sein mochten. Nun aber auf einmal tritt einer auf, der mit höhnischer, schmerzhafter Grimasse das Teuflische als Urgrund aller Dinge in die Diskussion stellt. Wir fühlen: was auch noch kommen mag, und wenn auch dieser Wahnsinnige untergehen oder geheilt werden sollte – diese furchtbare Perspektive wird von jetzt ab immer hinter der menschlichen Komödie stehen, die hier aufgerollt ist. Hier ist ein Blick in die letzten Abgründe geworfen. Erst jetzt ist dieses Leben mit allen seinen Formen und Einfällen gegen das Grenzenlose selbst abgegrenzt.
Konnte es gegen diese Szene noch ein Darüberhinaus geben? Wir wissen, daß es in erster Linie der Tod des Sohnes war, der Jean Pauls Schaffenskraft derart zerrüttete, daß er die Weiterarbeit an dem »Komet« aufgab. Aber als Max Richter starb, hatte Jean Paul den dritten Band bereits begonnen und führte ihn dem einmal gefaßten Plan entsprechend zu Ende. Als er diesen Schluß mit der grausigen Szene vor dem Kamin des »Römischen Hofes« schrieb, war es ihm bereits klar, daß er den Roman nicht weiter fortführen würde. Daher mag er die Darstellung zur höchsten
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