Saemtliche Werke von Jean Paul
vornehmen Herrn zu weinen: so war ihrs doch unmöglich, durch die gewaltsame Abbeugung des Gesichts alle Tränen, die seine Zunge voll Liebe in Bächen aus ihr preßte, zu entfernen…. Verübelt es seiner überwallenden Seele nicht, daß er dann seinen heißen Mund an ihre kalten verachteten und ohne Widerstand bebenden Lippen drückte und zu ihr sagte: »O! warum sind wir Menschen so unglücklich, wenn wir zu weich sind?« – In seinem Zimmer schien sie alles für Spott zu nehmen – aber die ganze Nacht hindurch hörte sie das Echo des menschenfreundlichen Menschen – sogar als Spott hätt’ ihr so viel Liebe wohlgetan – dann kristallisierten sich ihre vergangnen Blumen noch einmal im Fenster-Eis ihres jetzigen Winters – dann war ihr, als würde sie heute erst unglücklich. – Am Morgen schwieg sie gegen alle und war bloß diensteifriger gegen Sebastian, aber nicht mutiger; nur zuweilen fiel sie drunten dem Provisor, wenn er ihn lobte, mit den Worten, aber ohne weitere Erklärung, bei: »Man sollte sein eignes Herz in kleine Stückchen zerschneiden und hingeben für den engländischen Herrn.«
Arme Marie, sagt mein eignes Inneres dem Doktor nach; und setzet noch dazu: vielleicht liest mich jetzt gerade eine ebenso Unglückliche, ein ebenso Unglücklicher. Und mir ist, als müßt’ ich ihnen, da ich die Trauerglocken ihrer vergangnen trüben Stunden angezogen, auch ein Wort des Trostes schreiben. Ich weiß aber für den, der immer über neue gaffende Eisspalten des Lebens schreiten muß, kein Mittel als meines: wirf sogleich, wenns arg wird, alle mögliche Hoffnungen zum Henker und ziehe dich verzichtend in dein Ich zurück und frage: wie nun, wenns Schlimmste auch gar käme, was wär’s denn? Söhne deine Phantasie nie mit dem nächsten Unglück aus, sondern mit dem größten . Nichts löset mehr den Mut auf als die warmen, mit kalter Angst abwechselnden Hoffnungen. Ist dieses Mittel dir zu heroisch: so suche für deine Tränen ein Auge, das sie nachahmt, und eine Stimme, die dich fraget, warum du so bist. Und denke nach: der Widerhall des zweiten Lebens, die Stimme unserer bescheidnen, schönern, frömmern Seele wird nur in einem vom Kummer verdunkelten Busen laut, wie die Nachtigallen schlagen, wenn man ihren Käfig überhüllt.
Oft betrübte sich Sebastian darüber, daß er hier so wenig seine edlern Kräfte für die Menschheit anspannen können, daß seine Träume, durch den Fürsten Übel zu verhüten, Gutes auszurichten, Fieberträume blieben, weil z. B. sogar die besten Männer am Ruder des Staats Ämter durchaus nur nach Verhältnissen und Empfehlungen besetzten und fremde und eigne Ämter nie für Pflichten, sondern für Bergwerkkuxen hielten. Er betrübte sich über seine Unnützlichkeit; aber er tröstete sich mit ihrer Notwendigkeit: »In einem Jahr, wenn mein Vater kömmt, sag’ ich mich los und richte mich zu etwas Besserem auf«, und sein Gewissen setzte dazu, daß seine persönliche Unnützlichkeit der Tugend seines Vaters diene, und daß es besser sei, in einem Rade, bei der Tüchtigkeit zu einem Perpendikel, ein Zahn zu sein, ohne welchen das Gehwerk stocken würde, als der Perpendikel eines ungezähnten Rades zu werden.
In solchen Lagen fragte er sich immer von neuem: »Ist vielleicht Joachime, wie du, besser, weicher, weniger kokett, als sie scheint? und warum willst du sie nach einem äußern Schein verdammen, der ja auch der deinige ist?« Ihr Betragen bestätigte selten diese guten Vermutungen, ja es widerlegte sie oft gar; gleichwohl fuhr er fort, sich neuen Widerlegungen auszusetzen und Bestätigungen zu begehren. Das Bedürfnis zu lieben zwingt zu größern Torheiten als die Liebe selber; Viktor ließ sich jede Woche eine Vollkommenheit mehr vom weiblichen Ideal abdingen, für das er wie für den unbekannten Gott schon seit Jahren die Altäre in seinem Kopfe fertig hatte. Unter diesem Abdingen wäre der ganze Dezember verflossen, wäre nicht der erste Weihnachttag gewesen.
An diesem, wo er hinter jedem Fenster lachende Gesichter und Hesperiden-Gärten sah, wollt’ er auch fröhlich sein und flog unter den Kirchenmusiken in Joachimens Toilettenzimmer, um da sich selber eine Weihnachtfreude zu machen. Er beschere ihr, sagte er, einen Flaschenkeller aus Likören, ein ganzes Lager von Rataffia, weil er wisse, wie Damen tränken. Als er endlich seinen Lagerbaum voll Flaschen aus der – Tasche zog: wars eine elende kleine Schachtel voll Baumwolle, in der nette Fläschchen
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