Saemtliche Werke von Jean Paul
Kirchenjahrs (1ten Dezember) bis zum Ende des bürgerlichen (31sten Dezember)
Flamin, dessen patriotische Flammen in der Sessionstube keine Luft antrafen und ihn selber zuerst erstickten, wurde täglich scheuer und wilder. Es war ihm etwas Neues, daß ganze Kollegien und Kommissionen das tun mußten, was einer hätte machen können – daß die Glieder des Staats (wie es doch die Glieder des Körpers auch sind) am kurzen Arme des Hebels bewegt werden, um mit größerer Kraft weniger zu tun, und daß besonders ein Kollegium dem Leibe gleiche, der nach Borellus 2900mal mehr Kraft bei einem Sprunge anwendet, als die Last erfodert, die er zu heben hat. Er haßte alle Große und kam zu keinem; der Hofjunker Matz nicht einmal bekam seine Visiten. Mein Sebastian machte seine bei ihm seltener, weil seine Muße und seine Lustbarkeiten-Windstille gerade in Flamins Arbeitstunden fielen. Diese Entfernung und das ewige Sitzen bei Schleunes – welches Flamin aus Unbekanntschaft mit Joachimens Einfluß, auf alle Fälle Klotildens ihrem zurechnen mußte, zu deren künftigen Besuchen sich Viktor durch seine jetzigen den Vorwand verschaffe – und selber die fürstliche Gunst gegen diesen, die in Flamins Augen keine Folge seines Freiheitgeistes und seiner Aufrichtigkeit sein konnte – alles dieses zog die verschlungenen Freundschafthände beider, deren Leben sonst ein vierhändiges Tonstück gewesen, immer weiter auseinander; die Fehler und den moralischen Staub, den sonst Viktor von seinem Liebling wegwischen konnte, durfte er kaum wegzublasen wagen; sie betrugen sich zärter und aufmerksamer gegeneinander. Aber mein Viktor, an dessen Herz das Schicksal so viele saugende Vampyre legte, und der in eine Brust den Schmerz der entbehrten Liebe und den Kummer der fallenden Freundschaft einzuschließen hatte, wurde durch alles – recht lustig. O es gibt eine gewisse Lustigkeit der Verstockung und des Grams, die die erschöpfte Seele bezeichnet, ein Lächeln, wie das an Menschen, die an Wunden des Zwerchfells sterben, oder das an eingedorrten zurückgespannten Mumien-Lippen! Viktor warf sich in den Strom der Lustbarkeiten, um unter demselben seine eigne Seufzer nicht zu hören. Aber freilich oft, wenn er den ganzen Tag über niedergerissene Narrheiten komisches Salz ausgesäet hatte, das ebensooft die Hand des Säemanns wund beißet, und er den ganzen Tag sich an keinem Auge erquicken können, dem er in seinem eine Träne hätte zeigen dürfen – wenn er so müde der Gegenwart, so gleichgültig gegen die Zukunft, so wund von der Vergangenheit neben dem letzten Narren, neben dem Apotheker, vorbei war, und wenn er in seinem Erker in die voll Welten hängende Nacht und in den stillenden Mond und an die Morgenwolken über St. Lüne blickte: dann ging allezeit das geschwollne Herz und der geschwollne Augapfel entzwei, und die von der Nacht verdeckten Tränen strömten von seinem Erker auf die harten Steine hernieder: »O nur eine Seele,« rief sein Innerstes mit allen Tönen der Wehmut, »nur eine gib, du ewige liebende schaffende Natur, diesem armen verschmachtenden Herzen, das so hart scheint und so weich ist, so fröhlich scheint und so trübe ist, so kalt scheint und so warm ist.«
Dann war es gut, daß an einem ähnlichen solchen Abend kein Kammerherr, kein Weltmensch im Erker stand, wenn gerade die arme Marie – auf welche das vorige Leben wie eine erdrückende Lawine herübergestürzt ist – seine Frühstück-Befehle begehrte; denn er stand, ohne einen Tropfen abzuwischen, freundlich auf und ging ihr entgegen und faßte ihre weiche, aber rotgearbeitete Hand, die sie aus Furcht nicht wegzog – wiewohl sie aus Furcht ihr gegen die Hoffnung versteinertes Gesicht abdrehte –, und sagte dann, indem er sanft ihre Augenbraunen waagrecht strich, mit seiner aus dem gerührtesten Herzen steigenden Stimme: »Du arme Marie, sag mir was – du hast wohl wenig Freude – in deine guten Augen kommt wohl wenig mehr, was sie gerne sehen, wenns nicht deine Tränen sind – du Liebe, warum hast du keinen Mut zu mir, warum sagst du deinen Gram nicht mir? Du gutes gemartertes Herz – ich will für dich sprechen, für dich handeln – sag mir, was dich drückt, und wenn es dir einmal an einem Abend zu schwer wird und du drunten nicht weinen darfst, so komm herauf zu mir.. schau mich jetzo frei an.. wahrlich ich vergieße Tränen mit dir, und ich will mich den Henker um alles scheren.« – Ob sie es gleich für unhöflich hielt, vor einem so
Weitere Kostenlose Bücher