Saemtliche Werke von Karl May - Band 01
Was aber machte er erst für ein Gesicht, als er seinen Genossen an den Stuhl gebunden sah! Doch nahm er sich schnell zusammen, und es gelang ihm wirklich, eine ziemlich unbefangene Miene zu zeigen. »Was für ein Papier habt Ihr soeben eingesteckt?« fragte ihn Old Firehand.
»Eine alte Tüte,« antwortete der Tramp.
»So? Zeigt sie doch einmal her!«
Der Schreiber warf ihm einen erstaunten Blick zu und antwortete: »Wie kommt Ihr dazu, mir einen so unbegreiflichen Befehl erteilen zu wollen? Wer seid Ihr denn? Ich kenne Euch nicht. Sind meine Taschen etwa Euer Eigentum?«
»Ihr kennt ihn dennoch,« fiel der Ingenieur ein. »Es ist Old Firehand.«
»Old Fi– – –!« schrie der Tramp förmlich auf. Die zwei letzten Silben ließ der Schreck nicht aus seinem Munde. Seine Augen waren weit und starr auf den Genannten gerichtet.
»Ja, ich bin es,« bestätigte dieser; »hier habt Ihr mich wohl nicht vermutet! Und was den Inhalt deiner Taschen betrifft, so habe ich auf ihn wohl mehr Recht als du selbst. Zeig einmal her!«
Old Firehand nahm dem Tramp, ohne daß dieser zu widerstreben wagte, zuerst das Messer ab; dann holte er einen geladenen Revolver, welchen er zu sich steckte, aus der Tasche, und nun zog er ihm auch den Zettel aus derselben.
»Sir,« fragte der Schreiber jetzt in verbissenem Tone, »mit welchen Rechte thut Ihr das?«
»Zunächst mit dem Rechte des Stärkern und des Ehrlichen, und sodann hat Mr. Charoy, welcher die Polizeigewalt dieses Ortes vertritt, mir den Auftrag erteilt, in dieser Angelegenheit seine Stelle zu vertreten.«
»In welcher Angelegenheit? Was ich bei mir trage, ist mein Eigentum. Ich habe nichts Ungesetzliches gethan und muß unbedingt wissen, aus welchem Grunde Ihr mich wie einen Dieb behandelt!«
»Dieb? Pshaw! Wohl Euch, wenn es nur das wäre. Es handelt sich nicht nur um einen Diebstahl, sondern erstens um einen Mord und zweitens um etwas, was noch viel schlimmer ist, als einfacher Mord, nämlich um den Überfall und die Plünderung des Eisenbahnzuges, wobei voraussichtlich nicht nur ein einzelner Mensch sein Leben verlieren würde.«
»Sir, höre ich recht?« rief der Mann mit gut gespieltem Erstaunen. »Wer hat Euch eine solche Ungeheuerlichkeit vorgelogen?«
»Niemand. Wir wissen genau, daß diese Ungeheuerlichkeit in der That ausgeführt werden soll.«
»Von wem?«
»Von Euch!«
»Von mir?« lachte der Tramp auf. »Nehmt es mir nicht übel, Sir, aber wer da behaupten kann, daß ich, ein armer Schreiber, der hier ganz allein steht und diese That also ohne Helfershelfer ausführen müßte, einen Zug anhalten und berauben will, der muß geradezu verrückt sein!«
»Ganz richtig! Aber zunächst seid Ihr kein Schreiber, und sodann steht Ihr nicht so allein da, wie Ihr uns glauben machen wollt. Ihr gehört zu den Tramps, welche am Osage-nook die Osagen überfallen, dann Buttlers Farm angegriffen haben und nun hier eine halbe Million Dollar aus dem Bahnzuge holen wollen.«
Man sah den beiden Männern an, daß sie erschraken, doch nahm sich der vermeintliche Haller zusammen und antwortete im Tone eines vollständig unschuldigen Menschen: »Davon weiß ich kein Wort!«
»Und doch seid Ihr nur zu dem Zwecke hieher gekommen, um die Gelegenheit auszuspähen und Eure Verbündeten zu benachrichtigen!«
»Ich? Ich bin ja keinen Augenblick aus diesem Hause gekommen!«
»Ganz recht; aber Euer Kamerad hier hat den Boten gemacht. Was habt Ihr denn gestern Abend durch das geöffnete Fenster mit einander gesprochen? Ich habe über Euch auf dem Dache gelegen und jedes Wort gehört. Auf diesem Zettel steht die Antwort, welche Euch der rote Cornel sendet. Ich habe ihn noch nicht gelesen, kenne sie aber bereits und will Euch das beweisen. Die Tramps lagern drüben beim Eagle-tail. Sie wollen in der nächsten Nacht herüberkommen und sich außerhalb Sheridan an der Bahn lagern und ein Feuer anbrennen. Dieses letztere soll euch beiden den Ort andeuten, an welchem ihr den Maschinisten zwingen sollt, mit dem Zuge zu halten, aus diesem wollen sie sich dann das Geld holen.«
»Sir,« stieß der Schreiber, welcher jetzt seine Angst nicht mehr verbergen konnte, hervor, »wenn es wirklich Leute gibt, welche das unternehmen wollen, so ist es nur eine mir ganz unbekannte Folge von Umständen, welche mich mit diesen Verbrechen in Verbindung zu bringen scheinen. Ich bin ein ehrlicher Mann und – – – «
»Schweigt!« gebot Old Firehand. »Ein ehrlicher Mann mordet nicht.«
»Wollt Ihr
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