Saemtliche Werke von Karl May - Band 01
euch zu befreien.«
»Das ist kühn, außerordentlich kühn! Wo ist denn unser Wächter?«
»Er liegt erschlagen dort unter den Bäumen. Ich habe mich in seine Decken gehüllt, um für ihn gehalten zu werden.«
»Welche Klugheit, welche List! Hast du dein Messer mit?«
»Ja.«
»So schneide uns los; schnell, schnell!«
»Wer zu viel eilt, kommt zu spät an. Ehe ich euch befreie, müßt ihr wissen, was ihr zu thun habt. Ihr habt Zeit. Und wenn jetzt in diesem Augenblicke alle Abipones erwachten, es würde ihnen doch nicht gelingen, einen von euch zurückzuhalten.«
»Du sprichst nur von weißen Männern. Ist Anciano auch dabei?«
»Ja, du weißt, daß ich mich nie von ihm trenne.«
»Und wer sind die Weißen?«
»Der Vater Jaguar führt sie an.«
»Der Vater Jaguar? O, wenn der hier in der Nähe ist, so befinden wir uns nicht mehr in Gefahr.«
»Auch wenn er sich nicht hier befände, wärt ihr jetzt außer Gefahr. Ich zerschneide jetzt eure Banden; aber bleibet trotzdem genau so liegen, wie ihr jetzt liegt!«
Er zog sein Messer hervor und befreite sie in der Weise von ihren Fesseln, daß ein in diesem Augenblick erwachender Abipone doch nicht bemerkt hätte, was vorgenommen wurde. Dabei sprach er weiter:
»Die Feuer verlöschen, und nur dieses eine brennt noch. Wir sehen unsre Feinde nicht mehr genau; sie aber können uns beobachten. Darum müssen wir vorsichtig sein. Ich stehe jetzt auf und gehe wieder an den Bäumen hin und her; auch werde ich nach den Schläfern sehen. Finde ich, daß keiner von ihnen wach ist, so werde ich leise husten, und ihr kommt, einer hinter dem andern, nach der Stelle gekrochen, an welcher ich mich befinde. Unter den Bäumen dort wartet mein junger Freund Antonio. Sind wir bei diesem angelangt, so gehen wir, um die Pferde alle zu holen.«
»Ist nicht ein Wächter dort?« fragte der Häuptling.
»Ja, einer.«
»Den fürchten wir nicht. Ich habe zwar keine Waffe, aber ich erwürge ihn.«
»Du wirst ihn mir überlassen. Hörst du? Ich will euch ganz befreien; ihr sollt nichts dazu thun. Waffen werdet ihr auch haben. Es gibt hier Lanzen, Bogen, Pfeile und Blasrohre genug.«
Da nahm der Weiße zum erstenmal das Wort:
»Was nützen mir Bogen und Pfeile! Ich möchte mein Gewehr, mein gutes Gewehr haben.«
»Wo ist es?«
»Der Häuptling dort hat es bei sich liegen. Er hat es mir abgenommen. Ich hole es mir.«
»Ich kenne dich nicht und weiß nicht, ob du vorsichtig genug sein kannst. Ich werde es selbst holen.«
Da meinte EI Craneo duro:
»Du darfst diesen Señor nicht Du nennen’ denn er ist Offizier. Auch ist er im Leben der Wildnis erfahren, und ich versichere dich, daß er sehr wohl im stande ist, sich sein Gewehr selbst zu holen.«
»Und die Patronen dazu,« ergänzte der Weiße, indem er mit den Zähnen knirschte. »Dieser Hund hat mir auch die Uhr und den Kompaß abgenommen. Er soll keinen Nutzen davon haben!«
»Thun Sie, was Ihnen beliebt,« meinte der Inka; »nur wecken Sie niemand auf!«
»Wird mir nicht einfallen! Ich habe es nur mit einem zu thun, und der wird länger schlafen, als er, da er sich niederlegte, für möglich gehalten hat. Er hat es gewagt, einen Offizier mit Füßen zu treten!«
Der Inka steckte sein Messer wieder zu sich, stand auf und patrouillierte wieder hin und her. Nach einiger Zeit ging er von Feuer zu Feuer und überzeugte sich, daß alle schliefen. Auch zum Häuptling begab er sich. Dieser schnarchte. Er hatte das Gewehr nicht neben sich liegen, sondern zu sich in die Decke gewickelt.
Darauf schritt der Inka wieder nach der andern Seite, stellte sich an dem Rande der Lichtung auf und klatschte leise in die Hand. Infolge dieses Zeichens kamen sie herbeigekrochen, erst der »Harte Schädel«, dann seine vier Cambas und endlich der Offizier. Der Inka deutete auf die in der Erde steckenden Spieße und sagte zu dem Weißen, als die Cambas sich beeilten, zu den Waffen zu gelangen:
»Ihr Gewehr ist leider nicht zu erlangen. Der Häuptling hat dasselbe zu sich in die Ponchos gewickelt.«
»Unsinn! Ich werde es mir nehmen, ohne ihn darum zu bitten.«
Er eilte davon, ehe es möglich war, ihn zurückzuhalten. Ja, dieser Mann mußte, wie der Häuptling gesagt hatte, sich in der Wildnis bewegt haben! Er glitt unhörbar und doch blitzschnell über den Platz hinüber. Man sah, wie er sich auf den Häuptling warf und daß er eine Minute lang auf ihm liegen blieb. Kein Laut war zu hören. Dann erhob er sich wieder und steckte etwas ein. Hierauf
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