SÄURE
Jahre alt aus.
Ich blieb trotzdem. Madeleine wischte noch ein bißchen mit ihrem Staubtuch herum und sagte dann: »Ich gehe jetzt hinunter, mon petit chou. Etwas zu essen?«
Melissa schüttelte den Kopf.
Madeleine hob die Schale mit den Haferflocken auf und ging zur Tür. »Möchten Sie etwas essen, Monsieur?«
Die Einladung bedeutete, daß ich etwas richtig gemacht haben mußte. Ich merkte, daß ich hungrig war. Aber selbst wenn ich es nicht gewesen wäre, hätte ich nicht nein gesagt. »Danke, gern«, sagte ich, »etwas Leichtes wäre gut.«
»Ein Steak?« fragte sie. »Oder ein paar Lammkoteletts, ich habe die doppelten Stücke.«
»Ein kleines Kotelett wäre großartig.«
Sie nickte, stopfte ihr Staubtuch in eine Tasche und ging.
Allein mit Noel und Melissa kam ich mir wie ein unerwünschter Aufpasser vor. Sie schienen sich miteinander so wohl zu fühlen, daß ein Dritter unweigerlich störte.
Bald hatten sich Melissas Augen wieder geschlossen. Ich ging auf den Korridor hinaus und wanderte an etlichen Türen vorbei. Auf dem Weg in den rückwärtigen Teil des Hauses stieß ich auf die Wendeltreppe, die Gina Ramp an jenem ersten Tag auf der Suche nach Melissa heruntergelaufen war. Sie wand sich über mehrere Etagen im Dunkel der Halle.
Ich stieg hinauf. Oben angekommen, befand ich mich auf einem großen Absatz, der zu einer zweiflügeligen Tür aus Zedernholz führte. Im Schloß steckte ein altmodischer eiserner Schlüssel. Ich drehte ihn herum, machte einen Schritt vorwärts in die Dunkelheit hinein, tastete nach einem Lichtschalter und knipste ihn an. Ich erblickte einen riesigen Dachraum, über dreißig Meter lang, mindestens halb so breit. Der rechte Teil des Raums war vollgestellt mit Möbeln, Lampen, Kabinen und Lederkoffern, Gruppen von Gegenständen, die man in lockerer, aber erkennbarer Ordnung zusammengestellt hatte: Statuen, Bronzeskulpturen einer ganzen Gießerei, Uhren, Elfenbeinschnitzereien, ein Wald von Hirschgeweihen, ausgestopfte Vögel und ein aufgerichteter Eisbär mit Glasaugen, die Zähne fletschend, eine Pranke erhoben, während die andere einen ausgestopften Lachs umklammerte.
Die linke Seite war beinahe leer. An der Wand entlang zogen sich zwei Regalreihen mit Leinwänden und gerahmten Bildern; eine Staffelei in der Mitte, an die eine Künstlermappe gelehnt war, und ein Malkasten aus Kiefernholz. Ich drückte ihn mit dem Daumennagel auf. Darin befanden sich ungefähr ein Dutzend Zobelhaarpinsel, unten im Kasten mehrere Blätter Papier. Ich zog sie heraus, Zeitungsausschnitte aus: Life, National Geographie, American Heritage aus den 50er und 60er Jahren, hauptsächlich Landschaften und Seestücke.
Die Inspiration fördernde Bilder gingen mir durch den Sinn. Zwischen zweien dieser Blätter lag ein Photo. Auf die Rückseite hatte jemand mit einer schönen, flüssigen Handschrift in schwarzer Tinte notiert:
5. März 1971 Restaurierung?
Es war ein mattes Farbphoto von guter Qualität: Zwei Personen, ein Mann und eine Frau, standen vor einer getäfelten Tür, der Haustür mit den Canterburybildern.
Die Frau war von Gina Dickinsons Größe und Gestalt, eine schlanke Mannequinfigur, bis auf die harte, hohe Schwellung ihres Leibes. Sie trug ein weißes Seidenkleid und weiße Schuhe, die sich hübsch von dem dunklen Holz abhoben, auf dem Kopf einen weißen Strohhut mit einem breiten Rand. Das Gesicht unter dem Hut jedoch war mumienhaft in Bandagen eingewickelt, von welchen sich die Augenhöhlen flach und schwarz wie Rosinen in dem Gesicht eines Schneemanns abhoben. Eine Hand umklammerte einen Strauß weißer Rosen, die andere lag auf der Schulter des Mannes.
Ein winziger Mann. Er reichte nur bis zu Ginas Schulter, war so um die Sechzig, sah gebrechlich aus. Sein Kopf war zu groß für seinen Körper, die Arme unverhältnismäßig lang, stumpfartige Beine, ziegenbockähnliche Gesichtszüge unter krausem grauem Haar. - Ein Mann, dessen Häßlichkeit so irreparabel war, daß sie beinahe nobel wirkte.
Ich erinnerte mich an die Worte Angers, des Bankiers: ›Die Kunst war die einzige Extravaganz, die er sich leistete. Er hätte seine Anzüge von der Stange gekauft, wenn das möglich gewesen wäre.‹ Keine Portraits im Haus - Der Ästhet…
Ich sah mir die Leinwand auf der Staffelei näher an. Die Bleistiftlinien bildeten jetzt eine zusammenhängende Form: zwei ovale Gesichter, Gesichter in gleicher Höhe, Wange an Wange, darunter die skizzenhaften Anfänge von Torsi, der auf der
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