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SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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rechten Seite mit flachem Bauch. - Kunst als Revisionismus, Arthur Dickinsons Versuch eines Meisterwerks.
    5. März 1971. Melissa war im Juni des Jahres geboren worden. Arthur Dickinson hatte die Enthüllung seines kostbarsten Meisterwerks um Wochen verfehlt.
    Noch etwas anderes an dem Bild frappierte mich plötzlich: der ältere, kleinere, unansehnliche Mann - die größere, jüngere, schönere Frau. - Die Gabney, die Art, wie Leo vergebens den Arm um die Schultern seiner Frau zu legen versucht hatte. Er war zwar von normaler Größe, die Diskrepanz weniger dramatisch, aber die Parallele blieb erstaunlich. Vielleicht fiel es mir auf, weil die Gabneys an diesem Morgen an derselben Stelle gestanden hatten.
    Ähnlicher Geschmack, was Männer angeht, ähnlicher Geschmack, was die Innenarchitektur angeht. Wer hat wen beeinflußt? Das Rätsel von der Henne und dem Ei, das mir in Ursulas Praxis eingefallen war, drängte sich geradezu gewaltsam in mein Bewußtsein.
    Ich ging zu dem Regal mit den senkrechten Fächern hinüber. Jedes Fach war mit einem handschriftlichen Etikett versehen: Künstler, Beschreibung des Objekts, Datum der Ausführung und des Erwerbs waren notiert. Es waren Hunderte von Fächern, aber Arthur Dickinson war ein Systematiker und hatte die Sammlung alphabetisch geordnet. Cassatt stand zwischen Casale und Corot. Acht Fächer, zwei davon waren leer.
    Ich las die Aufkleber darunter:
     
    Cassatt, M. Mother’s Kiss, circa 1891.
    Aquatinta auf weichem Untergrund.
    Katal: Breeskin 149, 35,3 x 22,7 cm.
     
    Cassatt, M. Maternal Caress, circa 1891.
    Aquatinta auf weichem Untergrund.
    Katal.: Breeskin 150, 37,6x29,1 cm.
     
    Die übrigen sechs standen gerahmt und hinter Glas an ihrem Platz. Ich zog sie vorsichtig heraus. Alle waren schwarzweiß, keine Mutter-und-Kind-Szenen. Die beiden besten Stiche fehlten, der eine hing im grauen Zimmer der Patientin, der andere in dem der Ärztin.
    Ich erinnerte mich an die Art und Weise, wie sich die Gabneys an diesem Morgen benommen hatten. Leo hatte versucht, Mitgefühl zu projizieren. Gleichzeitig hatte er mir zu erklären versucht, daß Chickerings Selbstmordtheorie Unsinn sei. - Schadensbegrenzung!
    Ursula operierte auf einem ganz anderen Niveau: Sie hatte die Canterbury-Tür berührt, als führe sie zu einem Schrein oder einer Schatzkammer. Ich mußte an Ginas verschwundenes ›Kleingeld‹ denken, zwei Millionen… - Hatte es außer den Kunstobjekten noch andere Geschenke gegeben? Therapeutische Übertragung als Weg zum Reichtum? Aus Abhängigkeit und Angst konnte ein Seelenkrebs entstehen; wer Heilung anzubieten hatte, konnte jeden Preis verlangen.
    Ich erinnerte mich an die Geschenke, die ich entgegengenommen hatte, meistens handwerkliche Schöpfungen kleiner Kinder - Topflappen, Bilderrahmen aus Eis-am-Stiel-Stöckchen, Zeichnungen, Tonfiguren. Meine Praxis daheim war voll davon. Was Geschenke von Erwachsenen anbetraf, so hielt ich mich an die Regel, nur Kleinigkeiten zu akzeptieren - Blumen, Süßigkeiten, einen in gelbes Papier eingewickelten Korb mit Früchten. Alles, was irgendeinen größeren und dauerhaften Wert hatte, lehnte ich ab. Es mit der nötigen Höflichkeit zu tun, war manchmal qualvoll.
    Niemand hatte mir je ein seltenes Kunstwerk in die Hand gedrückt. Trotzdem bildete ich mir ein, daß ich es abgelehnt hätte. Nicht, daß das Annehmen von Geschenken strafbar wäre; ethisch gesehen lag es irgendwo an der Grenze zwischen Vergehen und Geschmacklosigkeit. Ich war gewiß kein Heiliger, den Freuden des guten Geschäfts gegenüber keineswegs unempfänglich, aber ich hatte meine Ausbildung gemacht, um zu lernen, wie man eine bestimmte Tätigkeit ausübt. Und die meisten Therapeuten mit Verantwortungsgefühl waren der Meinung, daß jedes Geschenk von materiellem Wert, in welcher Richtung auch immer, die Chancen verringerte, den Job korrekt durchzuführen. Ein solches Geschenk würde das therapeutische Gleichgewicht stören, indem es die Beziehung beeinträchtigte, die den Kern der Veränderung darstellte.
    Die Gabneys waren offenbar anderer Meinung. Eine Behandlung mit Hausbesuchen und Sitzungen mit offenem Ende führten wohl dazu, daß man es mit den Regeln nicht mehr so genau nahm. Ich mußte auf einmal daran denken, wieviel Zeit ich in diesem Haus verbracht hatte, - hatte auf dem Dachboden herumgestöbert, aber meine Absichten waren ehrenhaft. Im Gegensatz zu?
    Melissa hatte auf die Beziehung zwischen ihrer Mutter und Ursula mit wachsendem Mißtrauen

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