SÄURE
und hatte einen reinen Teint. »Kann ich Ihnen helfen?«
Milo sagte ihr, wen wir besuchen wollten.
»Sind Sie Familienangehörige?«
»Bekannte.«
»Alte Bekannte«, sagte ich, »wie Madeleine de Couer.«
»Madeleine«, sagte sie, es klang nach Zuneigung, »sie ist alle zwei Wochen hier, so anhänglich, und eine so gute Köchin, - wir sind alle begeistert von ihren Butterkeksen. Lassen Sie mich sehen, wie spät ist es, zehn nach sechs. Da schläft er wahrscheinlich. Er schläft viel, besonders in letzter Zeit.«
»Geht’s ihm schlechter?« fragte ich. »Körperlich oder geistig?«
»Körperlich erst mal.«
»Wir haben eine Verschlechterung erlebt, aber es wechselt. An dem einen Tag läuft er herum, am nächsten kann er sich nicht bewegen. Es fällt einem schwer, ihn so zu sehen und zu wissen, was ihm bevorsteht. Es ist so eine häßliche Krankheit, besonders für jemanden, der immer aktiv war, obwohl alle Krankheiten sind schlimm, nicht wahr? Ich habe von der, die er hat, sonst noch nie gehört, sie ist sogar noch seltener als Lou Gehrings. Ich mußte richtig büffeln, und es steht wirklich nicht viel in den medizinischen Büchern drin.«
»Wie geht es ihm geistig?«
Sie lächelte. »Sie wissen, wie er ist, aber es ist wirklich gut, daß wir ihn hier haben. Er kocht für die anderen, erzählt ihnen Geschichten, stachelt sie an, wenn er meint, daß sie faul werden. Er kommandiert sogar die Angestellten herum, aber keiner hat was dagegen, er ist so ein lieber Mensch. Wenn er - wenn er das alles nicht mehr tun kann, wird er uns wirklich fehlen,« sie seufzte. »Jedenfalls, sehen wir doch mal nach, ob er wach ist.«
Wir folgten ihr hinauf in den ersten Stock und kamen an Schlafzimmern vorbei. In jedem standen zwei oder drei Krankenhausbetten. Alte Männer und Frauen lagen in den Betten, sahen fern, lasen, schliefen, aßen - oral oder intravenös. Junge Leute in Straßenkleidung kümmerten sich um sie. Es war sehr still im Haus.
Das Zimmer, vor dem sie stehenblieb, lag hinten. Es war kleiner als die übrigen, ein einziges Bett, Punch-Karikaturen an den Wänden und das Ölbild einer jungen, schönen Frau mit einem unverletzten Gesicht. In der rechten unteren Ecke standen die Initialen A.D.
Alles war an seinem Ort und Bayrumaroma, das sich gegen die Süße des Blumendufts zu behaupten suchte. Ein Mann saß auf dem Bettrand und versuchte einen Manschettenknopf durch Knopflöcher zu stecken. Gestärkte weiße Manschetten, marineblaue Krawatte, blaue Sergehose, alles viel zu groß. Er schien in seiner Kleidung zu ertrinken. Ein Paar spiegelblanke schwarze Halbstiefel stand vor dem Bett. Rings um eine Kommode aus Preßholz, die mehr poliert worden war, als ihre billige Konstruktion verdiente, standen drei weitere, identische Paare. Neben den Schuhen stand ein vierbeiniger metallener Gehapparat.
Sein Haar war knochenweiß, der Scheitel rechts, und seine Frisur sah wie geleckt aus. Die glatte Wohlgenährtheit seines Gesichts war verschwunden, und seine Backen hingen lose in Bulldoggenfalten herab.
»Besuch für Sie«, kündigte die junge Frau fröhlich an.
Der Mann mühte sich mit dem Manschettenknopf ab, bekam ihn schließlich hinein, drehte sich dann herum und sah uns an. Ein Ausdruck der Überraschung glitt über das Gesicht, dann eine große Ruhe, als hätte er das schlimmstmögliche Szenario erfahren und überlebt. Er bemühte sich, für das Mädchen ein Lächeln zustande zu bringen, noch mehr rang er darum, die Worte auszusprechen: »Kommen Sie herein!« Eine Stimme so brüchig wie antike Scherben.
»Irgend etwas, das ich für Sie tun kann, Mr. D.?« fragte die Frau.
Der Mann schüttelte den Kopf. Sie ging. Milo und ich traten ein, ich schloß die Tür. »Hallo, Mr. Dutchy«, sagte ich. Kurzes Nicken.
»Erinnern Sie sich an mich? Alex Delaware? Vor neun Jahren?«
Flatternde Augenlider, er versuchte Doktor zu sagen.
»Das ist ein Freund von mir, Mr. Milo Sturgis. Mr. Sturgis, Mr. Jacob Dutchy, ein guter Freund von Melissa und ihrer Mutter.«
»Setzen… Sie… sich.« Er deutete auf einen Stuhl. Das einzige andere Möbelstück war ein Walnußholztisch, der aus einem viel besseren Jahrgang als die Kommode stammte; mit einer Lederfläche, die zum Teil von einem Zierdeckchen bedeckt wurde und einem Teeservice, dessen Muster identisch war mit dem, das ich einmal in einem kleinen grauen Wohnzimmer gesehen hatte. »Tee?«
»Nein, danke.«
»Sie«, wandte er sich Milo zu und nahm sich viel Zeit, es
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