Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
darüber gesprochen. Ich habe damit angefangen, als ich fünfzehn war - alt genug, um zu begreifen, wie sehr es ihr Leben beeinträchtigte. Ich meine, ich wußte ja immer schon, daß… sie anders war als andere Mütter. Aber als Kind kennen Sie das alles gar nicht anders und gewöhnen sich daran.«
    »Stimmt«, sagte ich.
    »Aber als ich älter wurde, fing ich an, mehr über Psychologie zu lesen, über das Verhalten und die Beweggründe von Menschen, und ich begriff langsam, wie schwer es für sie sein mußte und daß sie wirklich litt. Und ich wußte, wenn ich sie wirklich liebte, müßte ich ihr helfen. Also fing ich an, mit ihr darüber zu reden. Zuerst versuchte sie das Thema zu wechseln. Dann behauptete sie, es ginge ihr gut und ich sollte mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Aber ich gab es nicht auf, versuchte es immer wieder. Ich versuchte ihr klarzumachen, daß sie mich ernst nehmen mußte. Schließlich fing sie wirklich an zu reden: Wie schwer es ihr fiele, wie sehr sie darunter litt, keine normale Mutter zu sein - sie wäre gern so wie die anderen Mütter gewesen, aber jedesmal, wenn sie fort wollte, bekam sie diese Angst. Nicht nur seelisch, nein, sie litt auch unter körperlichen Anfällen, indem sie keine Luft mehr bekam und das Gefühl hatte, sie müsse sterben. Wie hilflos und nutzlos sie sich fühlte und wie sie sich schämte, daß sie sich nicht um mich kümmern konnte.«
    Melissa umspannte wieder ihre Knie, schaukelte hin und her und starrte auf den Briefbeschwerer, dann sah sie mich an. »Ich habe ihr gesagt, das wäre lächerlich. Sie wäre eine wunderbare Mutter. Sie weinte und sagte, sie wüßte, daß das nicht stimmte, aber ich hätte mich trotzdem wunderbar entwickelt, obwohl sie mir nicht geholfen hätte - im Gegenteil. Es tat mir weh, daß sie das sagte, und ich fing auch an zu weinen. Wir hielten einander in den Armen. Sie sagte mir immer wieder, wie sehr es ihr leid täte und wie froh sie wäre, daß ich mich soviel besser entwickelt hätte als sie. Ich würde ein glückliches Leben führen und hinaus können und Dinge sehen, die sie nie gesehen hätte, Sachen tun, die sie nie getan hätte.« Sie hielt an, sog die Luft ein.
    Ich sagte: »Es muß schwer für Sie gewesen sein, zuzusehen, wie sehr sie sich quälte.«
    »Ja«, sagte sie und ließ ihren Tränen freien Lauf.
    Ich zog ein Kleenex aus der Schachtel, reichte es ihr und wartete, bis sie sich gefaßt hatte.
    »Ich habe ihr gesagt«, flüsterte sie schniefend, »daß ich nicht besser sei als sie, in keiner Weise. Daß ich nur draußen in der Welt sei, weil ich Hilfe bekommen hatte - von Ihnen. Und das nur deshalb, weil sie mich lieb hatte und Hilfe besorgt hatte.«
    Ich dachte an die Kinderstimme am Telefon, an die abwehrenden parfümierten Briefe, die unbeantworteten Anrufe.
    Währenddessen fuhr Melissa fort: »… daß ich sie doch lieb habe und Hilfe für sie besorgen wolle. Sie sagte, sie wüßte, daß sie Hilfe brauche, aber daß ihr keine Behandlung und kein Arzt helfen könne. Dann weinte sie immer heftiger und gestand, sie hätte Angst vor Ärzten - sie wüßte, das sei dumm und kindisch. Sie habe ja noch nicht einmal mit Ihnen am Telefon gesprochen. Und trotz des Hindernisses, das sie für mich bedeute, hätte sich mein Zustand gebessert. Ich sei eben stark und sie schwach. Ich sagte ihr, Stärke sei nicht unbedingt etwas, das man von vornherein hat, sondern sei erlernbar. Sie wäre auf ihre Art ja auch stark. Sie hätte das alles durchgemacht und wäre trotzdem immer noch eine schöne und liebe Person - denn das ist sie, Dr. Delaware!« Ich nickte und wartete.
    Sie fuhr fort: »Sie schämt sich so sehr, aber in Wirklichkeit ist sie wunderbar, geduldig, niemals mißmutig. Sie hat mich niemals angebrüllt, als ich klein war und nicht schlafen konnte - bevor Sie mich geheilt haben -, hielt sie mich immer im Arm und küßte mich und sagte mir jedesmal, ich wäre wundervoll und so schön, das beste kleine Mädchen auf der Welt, und die Zukunft wäre wunderbar. Sogar wenn ich sie die ganze Nacht lang wachhielt, sogar wenn ich das Bett naßgemacht hatte und ihre Laken durchgeweicht waren, hielt sie mich trotzdem einfach im Arm und sagte mir, sie hätte mich lieb und alles würde gut werden. So ein Mensch ist sie, und deshalb wollte ich ihr helfen - ihr etwas von ihrer Liebe vergelten.« Sie vergrub das Gesicht in dem Kleenex. Es verwandelte sich in einen durchnäßten Klumpen, und ich gab ihr ein neues.
    Nach einer

Weitere Kostenlose Bücher