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SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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da. Die Verwandlung vom Kind zur Frau schien beinahe vollendet, und die Anzeichen deuteten auf ein erfreuliches Ergebnis. Sie hatte die Wangenknochen eines Mannequins und eine makellose, leicht gebräunte Haut. Ihr glattes Haar war dunkler geworden und reichte ihr immer noch bis zur Taille. Die Ponyfrisur war einem Seitenscheitel mit einer Tolle gewichen. Ihre Augen unter den schön gewölbten Brauen waren riesig und standen weit auseinander. Sie war eine junge Grace Kelly. Eine zierliche Grace Kelly mit einer Wespentaille. Sie war an die einsfünfzig groß und von zarter Statur.
    Ich wies ihr den Weg ins Wohnzimmer und bot ihr einen Sessel an. Sie setzte sich hin, kreuzte die Beine und sah sich um. »Sie haben eine sehr hübsche Wohnung, Dr. Delaware.«
    Ich fragte mich, wie meine hundertachtzig Quadratmeter Redwoodholz und Glas auf sie wirken mochten. Das Schloß, in dem sie aufgewachsen war, hatte wahrscheinlich Säle, die weit größer waren. Ich dankte ihr, setzte mich und sagte: »Es ist schön, Sie wiederzusehen, Melissa.«
    »Ich freue mich ebenfalls, Sie wiederzusehen, Dr. Delaware. Und vielen Dank, daß Sie sich Zeit für mich nehmen.«
    »Ist mir ein Vergnügen. War es schwer, mich zu finden?«
    »Nein, ich habe im Thomas-Guide nachgeguckt, den ich gerade entdeckt habe. Er ist phantastisch.«
    »Ja, das stimmt.«
    »Unglaublich, wie viele Informationen in so ein Buch hineingehen, nicht?«
    »Ja, das stimmt.«
    »Ich bin noch nie hier oben in diesen Canyons gewesen. Es ist sehr hübsch hier.«
    Sie lächelte schüchtern aber selbstsicher - eine selbstsichere junge Dame. Gab sie sich meinetwegen so? War sie albern und gewöhnlich, wenn sie sich mit ihren Freundinnen zum Bummeln traf? Ging sie bummeln? Hatte sie Freundinnen? Freunde? Ich wurde mir bewußt, wie wenig ich sie nach den neun Jahren noch kannte, die inzwischen vergangen waren. Ich lächelte zurück und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, daß ich sie von neuem studierte: Aufrechte Haltung, vielleicht ein bißchen zu steif, aber keine sichtbaren Anzeichen mehr, die auf Angst hindeuteten. Ihre Hände lagen ruhig auf ihren Knien. Ich sagte: »Na, es ist lange her.«
    »Neun Jahre«, sagte sie, »ganz schön unglaublich, hm?«
    »Ja, in der Tat. Ich erwarte von Ihnen zwar nicht, daß Sie alles aufzählen, was inzwischen geschehen ist, aber es interessiert mich doch, was Sie so gemacht haben.«
    »Nur das Übliche«, sagte sie und zuckte die Schultern. »Die meiste Zeit ist für die Schule drauf gegangen.« Sie beugte sich vor, streckte die Arme aus und umklammerte dann ihre Knie. Eine Haarsträhne rutschte ihr über das eine Auge. Sie schob sie beiseite und sah sich wieder im Zimmer um.
    Ich sagte: »Gratuliere zum Schulabschluß!«
    »Danke, ich bin in Harvard angenommen.«
    »Phantastisch, meinen doppelten Glückwunsch.«
    »Ich war überrascht, daß sie mich genommen haben.«
    »Ich wette, das stand bei Ihnen von Anfang an fest.«
    »Es ist nett, daß Sie das sagen, Dr. Delaware, aber ich glaube, ich habe ziemliches Glück gehabt.«
    Ich fragte: »Lauter Einsen oder beinahe?«
    Wieder das schüchterne Lächeln. Ihre Hände umklammerten weiter die Knie. »Nicht in Turnen.«
    »Na, schämen Sie sich junge Dame.«
    Das Lächeln wurde breiter, aber es schien sie Mühe zu kosten, es beizubehalten. Sie sah sich andauernd im Zimmer um, als suche sie etwas.
    Ich fragte: »Wann geht es denn in Boston los?«
    »Ich weiß es nicht…, die möchten, daß ich es ihnen innerhalb von zwei Wochen mitteile, ob ich komme. Also muß ich mich wohl entscheiden.«
    »Soll daß heißen, daß Sie überlegen, ob Sie vielleicht nicht hingehen?«
    Sie leckte sich die Lippen, nickte und sah mich an. »Das ist… ja das Problem, über das ich mit Ihnen reden wollte.«
    »Ob Sie nach Harvard gehen oder nicht?«
    »Was es bedeutet, wenn ich nach Harvard gehe - für meine Mutter.« Sie befeuchtete sich wieder die Lippen, hüstelte und begann, leicht hin und her zu wippen, bis sie einen Briefbeschwerer aus geschliffenem Kristall vom Kaffeetisch aufhob und die Brechung des goldenen, von Stäubchen durchsetzten Lichts studierte.
    Ich fragte: »Ist Ihre Mutter dagegen, daß Sie fortgehen?«
    »Nein, sie ist -, sie sagt -, sie möchte, daß ich gehe. Sie hat überhaupt nichts dagegen eingewandt - nein, sie hat mich sogar sehr ermutigt. Sie sagt, sie möchte wirklich, daß ich gehe.«
    »Aber Sie machen sich trotzdem ihretwegen Sorgen.«
    Sie legte den Briefbeschwerer wieder hin,

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