SÄURE
niemand klärte mich darüber auf. Ich fing an, mich zu fragen, ob es richtig gewesen war, daß ich sie zu uns geholt hatte. Als ich sie einmal fragen wollte, war sie ziemlich unangenehm.« Sie schwieg und rang die Hände. Ich fragte: »Was ist passiert?«
»Ich erwischte Dr. Ursula am Ende einer Therapiestunde, gerade als sie ins Auto steigen wollte, und fragte sie, wie sich Mutter machte. Sie lächelte nur und sagte, alles entwickle sich gut. Sie ließ mich deutlich merken, daß mich das alles nichts anginge. Dann fragte sie mich ziemlich herablassend, ob ich mir irgendwelche Sorgen machte. Ich hatte das Gefühl, daß sie mich herunterputzen wollte, daß sie mich analysieren wollte, es war unheimlich. Ich konnte es gar nicht erwarten, daß sie endlich verschwand!« Sie hatte die letzten Worte ziemlich laut gesprochen, beinahe herausgeschrien. Sie merkte es, wurde rot und hielt die Hand vor den Mund.
Ich lächelte ihr aufmunternd zu.
»Aber dann, später«, sagte sie, »konnte ich es verstehen, glaube ich. Sie führten ja vertrauliche Gespräche, die sie als Ärztin für sich behalten mußte. Ich erinnerte mich, wie es bei meiner eigenen Therapie gewesen war. Ich habe Ihnen ja auch all diese Fragen gestellt - über die anderen Kinder -, nur um zu prüfen, ob Sie nicht das Geheimnis verrieten. Und dann hatte ich ein sehr gutes Gefühl, mir war richtig wohl, als Sie nicht nachgaben.« Sie lächelte. »Das war schlimm, wie? Daß ich Sie so geprüft habe?«
»Vollkommen normal«, sagte ich.
Sie lachte. »Na, Sie haben die Prüfung bestanden, Dr. Delaware.« Sie errötete noch stärker und wandte sich ab. »Sie haben mir sehr geholfen.«
»Das freut mich, Melissa. Danke, daß Sie mir das sagen.«
»Muß ein angenehmer Job sein«, sagte sie, »der des Therapeuten. Wenn man den Leuten die ganze Zeit sagen kann, sie wären okay und ihnen nicht weh tun muß wie die anderen Ärzte.«
»Manchmal tut es aber doch weh, aber im allgemeinen haben Sie allerdings recht. Es ist ein wunderbarer Job.«
»Wie kommt es dann aber, daß Sie nicht mehr - Tut mir leid, das geht mich nichts an.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte ich, »hier kann über alles gesprochen werden, solange Sie es ertragen können, nicht immer eine Antwort zu bekommen.«
Sie lachte. »Da, Sie tun’s schon wieder, sagen mir, daß ich okay bin.«
»Sie sind okay.«
Sie berührte den Briefbeschwerer mit dem Finger, zog ihn dann wieder zurück. »Danke, für alles, was Sie für mich getan haben. Sie haben mich nicht nur von meinen Ängsten befreit, Sie haben mir auch gezeigt, daß die Leute sich ändern können - daß sie gewinnen können. Es ist manchmal schwer, das zu erkennen, wenn man mitten drin steckt. Ich habe daran gedacht, auch Psychologie zu studieren, um vielleicht Therapeutin zu werden.«
»Sie würden eine gute Therapeutin abgeben.«
»Glauben Sie das wirklich?« fragte sie, sah mich an und strahlte.
»Ja, das glaube ich, Sie sind klug. Sie haben etwas für Menschen übrig, und Sie haben Geduld - nach dem, was Sie mir über sich und Ihre Mutter erzählt haben, sind Sie sehr geduldig.«
»Ja«, sagte sie, »ich liebe sie eben. Ich weiß nicht, ob ich mit jemand anderem auch Geduld hätte.«
»Es wäre wahrscheinlich sogar leichter, Melissa.«
»Ja, ich glaube, das stimmt. Denn um die Wahrheit zu sagen, ich hatte gar keine Geduld, als sie sich immer nur weigerte und die Sache sich in die Länge zog. Manchmal hätte ich sie am liebsten angeschrien und ihr gesagt, sie soll aufstehen und sich auf der Stelle ändern. Aber ich konnte es nicht. Sie ist meine Mutter, und sie ist immer wundervoll zu mir gewesen.«
Ich sagte: »Aber jetzt, nachdem Sie sich all die Mühe gemacht und dafür gesorgt haben, daß sie behandelt wird, müssen Sie zusehen, wie sie und Dr. Ursula monatelang im Garten Spazierengehen, ohne daß irgendwas passiert.
»Ja! Ich wurde schon richtig mißtrauisch. Und dann plötzlich ging es los: Dr. Ursula begleitete sie bis vor das Eingangstor, nur ein paar Schritte bis zum Bordstein, und als sie dort ankam, bekam sie einen Anfall. Aber es war das erstemal, daß sie sich außerhalb der Mauern befand, seit… es war das erstemal, daß ich sie überhaupt draußen gesehen habe. Dr. Ursula hat sie wegen des Anfalls nicht zurückgeholt, sondern gab ihr irgendeine Medizin - mit einem Inhalator, wie Asthmatiker ihn benutzen - und ließ sie draußen bleiben, bis sie sich beruhigt hatte. Am nächsten Tag sind sie wieder hinausgegangen,
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