SÄURE
Weile trocknete sie ihre Tränen und hob den Kopf: »Schließlich, nachdem ich monatelang mit ihr geredet hatte, nachdem wir uns beide ausgeheult hatten und unsere Tränen versiegt waren, gab sie mir ihre Einwilligung zu meinem Vorschlag: Wenn ich den richtigen Doktor fände, würde sie es versuchen. Einen Doktor, der ins Haus kommen würde. Aber ich tat eine Weile nichts, weil ich nicht wußte, wo ich einen solchen Doktor finden sollte. Ich habe ein bißchen herumtelefoniert, aber die, die mich zurückriefen, sagten, sie kämen nicht ins Haus. Ich hatte das Gefühl, daß sie mich wegen meines Alters nicht ernst nahmen. Ich habe sogar daran gedacht, Sie anzurufen.«
»Warum haben Sie es nicht getan?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, es war mir peinlich. Ziemlich dumm von mir, hm?«
»Überhaupt nicht.«
»Jedenfalls, dann las ich den Zeitungsartikel. Das alles klang vielversprechend. Ich rief diese Klinik an und redete mit ihr - mit der Frau. Sie sagte ja, sie könne helfen, aber ich könne nicht für jemand anderen eine Behandlung verabreden. Die Patientin müsse selbst anrufen und sich anmelden, sie nähme nur Patienten, die motiviert seien. Es klang so, als würde man sich um die Aufnahme ins College bewerben. Also redete ich mit Mutter, sagte ihr, ich hätte jemanden gefunden, gab ihr die Telefonnummer und bat sie anzurufen. Sie bekam richtig Angst - kriegte einen ihrer Anfälle.«
»Wie ist das?«
»Sie wird blaß, faßt sich an die Brust und fängt an, ganz schwer und heftig zu atmen. Sie keucht, als bekäme sie keine Luft mehr. Manchmal wird sie ohnmächtig.«
»Das hört sich ja ziemlich angsteinflößend an!«
»Kann schon sein«, sagte sie, »wenn man es das erstemal sieht… Aber wie gesagt, ich bin damit aufgewachsen, also wußte ich, daß es nichts Gefährliches war. Das klingt wahrscheinlich grausam, aber so ist es.«
Ich sagte: »Nein, das tut es nicht. Sie wußten, was vor sich ging. Sie konnten es einordnen.«
»Ja. Genau. Also wartete ich einfach, bis der Anfall vorbei war - solche Anfälle dauern gewöhnlich nicht länger als ein paar Minuten, und dann wird sie ganz müde und schläft ein paar Stunden. Aber ich wollte nicht, daß sie diesmal einschlief. Ich hielt sie fest und küßte sie und fing an, sehr leise und ruhig auf sie einzureden, sich endlich einer Therapie zu unterziehen. Sie fing an zu weinen. Und sie sagte, ja, sie würde es versuchen, aber nicht jetzt sofort, sie sei zu schwach. Also gab ich nach, und wochenlang geschah nichts. Schließlich war meine Geduld zu Ende. Ich ging zu ihr ins Zimmer hinauf, wählte vor ihren Augen die Nummer und verlangte Dr. Ursula zu sprechen. Ich gab ihr den Hörer in die Hand, und blieb bei ihr stehen: So.« Sie stand auf, verschränkte die Arme über der Brust und machte ein strenges Gesicht. »Ich glaube, ich habe sie ziemlich unvorbereitet erwischt, sie nahm nämlich den Hörer und fing an, mit Dr. Ursula zu sprechen. Hörte ihr zu und nickte die meiste Zeit nur, aber am Schluß traf sie mit ihr eine Verabredung.« Sie ließ die Arme fallen und setzte sich wieder. »Jedenfalls, so ist es gewesen, und die Behandlung scheint ihr zu helfen.«
»Seit wann ist sie denn schon in Behandlung?«
»In diesem Monat wird es ein Jahr.«
»Wird sie von beiden Gabneys behandelt?«
»Zuerst kamen beide zu uns, mit einer schwarzen Tasche und allen möglichen Sachen - ich glaube, sie haben sie körperlich untersucht. Dann kam nur noch Dr. Ursula und alles, was sie mitbrachte, war ein Notizblock und ein Stift. Mutter und sie verbrachten Stunden zusammen oben in Mutters Zimmer - jeden Tag, sogar an den Wochenenden, wochenlang, dann kamen sie schließlich herunter und gingen im Haus herum, redeten wie Freunde miteinander.« Sie betonte Freunde mit einem ganz leichten Stirnrunzeln. »Worüber sie geredet haben, kann ich Ihnen nicht sagen, denn Dr. Ursula achtete immer sorgfältig darauf, Mutter von allen anderen fernzuhalten - von den Angestellten und von mir. Nicht indem sie es direkt gesagt hätte - nein, sie hat so einen Blick, mit dem sie einen ansieht, daß man sofort wußte, man hat in ihrer Nähe nichts zu suchen.« Noch ein Stirnrunzeln. »Schließlich, ungefähr nach einem Monat, gingen sie hinaus im Garten spazieren. Das taten sie lange Zeit, ohne daß irgendein Fortschritt erkennbar war, soweit ich das beurteilen konnte. Mutter hatte das schon immer fertiggebracht, auch allein, ohne Behandlung. Diese Phase schien sich ewig lange hinzuziehen, und
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