SÄURE
und dann immer wieder, und sie hatte immer wieder Anfälle - es fiel mir wirklich schwer, dabei zuzusehen. Aber schließlich vermochte Mutter am Bordstein zu stehen, ohne daß etwas passierte. Danach unternahmen sie Arm in Arm Spaziergänge um den Block. Endlich, vor ein paar Monaten, erreichte es Dr. Ursula, daß sie sich auch hinters Lenkrad setzte und fuhr, ihren Lieblingswagen - das ist dieser kleine Rolls-Royce Silver Dawn, er ist von 1954, aber in einwandfreiem Zustand. Die Karosserie ist eine Spezialanfertigung, die mein Vater hat machen lassen, als er in England war. Einer der ersten Wagen mit Servolenkung und getönten Fensterscheiben. Den hat er ihr dann geschenkt. Sie hat ihn immer gern gemocht. Manchmal hat sie sich hineingesetzt, nachdem er gewaschen worden war, aber gefahren hat sie ihn nie. Sie muß es Dr. Ursula gegenüber erwähnt haben, daß es ihr Lieblingswagen war. Sie ist jetzt an dem Punkt, wo sie fahren kann, wenn noch jemand bei ihr im Wagen sitzt. Sie fährt mit Dr. Ursula oder jemand anderem zusammen zur Klinik - es ist nicht weit, es ist drüben in Pasadena. Wenn man bedenkt, wie es mit ihr vor einem Jahr aussah, dann ist es doch ein ziemlich phantastischer Fortschritt, finden Sie nicht?«
»Doch, ganz bestimmt. Wie oft fährt sie in die Klinik?«
»Zweimal in der Woche, montags und donnerstags, zur Gruppentherapie. Da ist sie mit anderen Frauen zusammen, die dasselbe Problem haben.« Sie lehnte sich trockenen Auges zurück und lächelte. »Ich bin so stolz auf sie, Dr. Delaware. Ich möchte es mit ihr nicht verderben.«
»Indem Sie nach Harvard gehen?«
»Indem ich irgend etwas tue, durch das ich alles wieder kaputtmache. Für mich gleicht Mutters Genesung einem Balanceakt - eine falsche Bewegung, und der Weg führt nicht ins Glück, sondern wieder in den Abgrund der Angst. Ich muß immer daran denken, daß jede Kleinigkeit sie aus der Balance bringen könnte.«
»Sie sehen Ihre Mutter als ein ziemlich zerbrechliches Wesen.«
»Ja, sie ist zerbrechlich! All das, was sie erlebt hat, hat sie zerbrechlich gemacht.«
»Haben Sie schon mit Dr. Ursula darüber gesprochen?«
»Nein«, sagte sie, plötzlich grimmig, »nein, das habe ich nicht.«
»Ich habe das Gefühl«, sagte ich, »als ob Sie Dr. Ursula immer noch nicht mögen, obwohl sie Ihrer Mutter geholfen hat.«
»Das ist wahr. Sie ist sehr - sie ist kalt.«
»Gibt es noch etwas an ihr, das Sie nicht mögen?«
»Nur was ich schon gesagt habe, daß sie mich analysiert hat… Ich glaube nicht, daß sie mich mag.«
»Wieso denn nicht?«
Sie schüttelte den Kopf, ein Lichtstrahl traf ihren Ohrring und ließ ihn aufleuchten. »Es sind einfach die Schwingungen, die von ihr ausgehen. Ich weiß, das klingt unpräzise, aber ich habe in ihrer Nähe einfach so ein ungutes Gefühl.«
»Haben Sie mit Ihrer Mutter darüber zu reden versucht?«
»Ich habe ein paarmal mit ihr über die Therapie gesprochen. Sie sagte, Dr. Ursula führe sie Schritt für Schritt weiter, und sie klettere diese Stufen mühevoll empor. Sie sei mir dankbar, daß ich ihr zu einer Behandlung verholfen hätte, aber nun müßte sie sich wie eine Erwachsene benehmen und selbständig werden. Ich habe nichts dagegen eingewandt, wollte nicht riskieren, daß ich ihr irgendeinen… Schaden zufügte.« Sie rang die Hände, schleuderte das Haar zurück.
Ich fragte: »Melissa, kommen Sie sich ein bißchen vernachlässigt vor, infolge der Behandlung?«
»Nein, das ist es überhaupt nicht. Natürlich würde ich gern mehr wissen, speziell wegen meines Interesses an Psychologie, aber das ist nicht, was mich beunruhigt. Wenn es so diskret vor sich gehen muß, dann bin ich einverstanden. Und wenn auch noch nicht mehr dabei herausgekommen ist, so ist es doch schon ein großer Fortschritt.«
»Bezweifeln Sie denn, daß es weitergehen wird?«
»Weiß ich nicht«, sagte sie. »Wenn man es Tag für Tag verfolgt, scheint es so langsam voranzugehen.« Sie lächelte. »Sie sehen, Dr. Delaware, ich habe überhaupt keine Geduld.«
»Obwohl Ihre Mutter so große Fortschritte gemacht hat, sind Sie noch nicht davon überzeugt, daß sie schon weit genug ist, daß Sie sie allein lassen können.«
»Genau.«
»Und Sie sind enttäuscht, daß Dr. Ursula Ihnen keine Auskünfte über ihre Prognose gibt.«
»Sehr enttäuscht.«
»Was ist mit Dr. Leo Gabney? Würden Sie lieber mit ihm sprechen?«
»Nein«, sagte sie. »Ich kenne ihn überhaupt nicht. Wie gesagt, er hat sich nur einmal am
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