Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
Gesicht verbiegt sich wie eine Gummimaske. »O Gott. Das heißt, Piper war vielleicht bei ihr. Sie sind vielleicht beide entkommen.«
»Es ist noch zu früh, um das zu sagen.«
»Sie müssen doch Hinweise haben.«
»Wir befragen eine Person.«
»Wen?«
»Einen Mann, der sich in der Gegend aufgehalten hat, wo Natasha gefunden wurde.«
»Wie heißt er?«
»Ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Weiß er, wo Piper ist? Haben Sie ihn gefragt? Hat er sie an einem sicheren Ort zurückgelassen?«
Drury breitet die Hände aus. »Ich kann diese Fragen nicht beantworten.«
Eine Frau betritt das Zimmer, das Haar frisch gebürstet, sorgfältig geschminkt. Im Arm trägt sie ein Kleinkind in bunten Leggings und einem hellroten Kittel.
»Du solltest das nicht hier besprechen, Dale«, tadelt sie ihn. »Nicht vor den Kindern.«
Sarah Hadley ist eine große attraktive Frau Anfang vierzig, sie trägt eine dunkle Seidenbluse, eine Kaschmirjacke und Designerjeans, die möglicherweise nie zuvor getragen wurden.
»Phoebe, kannst du bitte Jessica füttern?«, fragt sie. »Sie möchte Rice Crispies. Und zieh ihr ein Lätzchen an.«
Phoebe nimmt ihre Schwester und hebt sie in einen Kinderstuhl.
Sarah besteht darauf, dass wir im Salon weiterreden. Im akkurat möblierten Raum sind Sofas und Sessel um einen Couchtisch aus Walnussholz gruppiert. In dem Erker steht ein weiß geschmückter Weihnachtsbaum.
Sarah hockt sich auf die Kante eines Sessels, die Hände im Schoß, die Knie zusammengepresst. Das Weiß ihrer Augen ist von feinen roten Äderchen durchzogen, und ihr Atem riecht nach etwas Süßem: einem Drink zur Stärkung.
»Sie haben jemanden verhaftet«, sagt Mr Hadley. »Sie glauben, er weiß, wo Piper ist.«
»Das habe ich nicht gesagt«, widerspricht Drury. »Es ist unklug, zum jetzigen Zeitpunkt Spekulationen anzustellen.«
Sarah wendet den Kopf und starrt vorbei an dem Weihnachtsbaum in den Garten. Die Sonne ist herausgekommen und hat den gefrorenen Rasen in einen Teppich aus Diamanten verwandelt.
»Natasha war die Starke«, flüstert sie. »Wenn sie es nicht geschafft hat zu überleben, welche Hoffnung besteht dann für Piper?«
Ihr Mann beruhigt sie und greift nach ihrer Hand, doch sie zieht sie fast instinktiv zurück. Die beiden sind ein seltsames Paar. Sarah sieht aus wie eine ehemalige Schönheitskönigin mit makelloser Haut, scheinbar ohne Poren und so kunstvoll geschminkt, dass man das Make-up praktisch nicht sieht. Dale ist klein und stämmig, mit einem Mondgesicht und Aknenarben.
Beide scheinen ganz unterschiedlich auf die Nachricht zu reagieren. Dale erlaubt sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder zu hoffen. Jetzt will er da draußen sein, Türen eintreten, an Bäumen rütteln und Pipers Namen von den Dächern rufen.
Dagegen wirkt Sarah, die Pipers Verschwinden drei Jahre lang im Bewusstsein der Öffentlichkeit gehalten, Interviews gegeben, Plakate aufgehängt und eine Website geführt hat, durch die Nachricht von Natashas Tod wie ausgehöhlt.
Ich habe schon hunderte von Paaren gesehen, die von einem Verlust überwältigt waren. Einige können sich direkt in die Augen sehen und brauchen keine Worte. Andere sind wie Fremde, die gemeinsam in einem Fernzug sitzen. Einige sinken krei schend zu Boden, während andere unbewegt und scheinbar emotionslos bleiben. Einige geben sich selbst die Schuld, andere suchen nach jemandem, den sie verantwortlich machen können, während ein paar sich ins Vergessen trinken oder so tun, als wäre alles wie immer.
Ich kann mir vorstellen, wie dieses Paar nachts im Bett nebeneinanderliegt, hohl in Herz und Seele, und sich fragt, ob Piper noch lebt. Einer von ihnen gibt die Hoffnung auf, während der andere sich daran klammert – bis heute, als sich die Rollen verkehrt haben.
Ich habe es selbst erlebt. Ich habe wach gelegen und an die Decke gestarrt, mit vor Erschöpfung schmerzenden Knochen und dem Wissen, dass Gideon Tyler Charlie verschleppt hatte, ungewiss, ob sie noch lebte. Ich habe jede Grauschattierung des Kummers durchlebt und weiß, dass er nie schwarz-weiß kommt.
Dale Hadley führt mich nach oben in Pipers Zimmer. Vor der Tür bleibt er stehen, als hätte er Angst, die Schwelle zu überschreiten.
»Ich habe keinen Fuß mehr in das Zimmer gesetzt«, erklärt er. »Seit ihrem Verschwinden nicht mehr. Piper war sehr eigen, was ihre Privatsphäre angeht. Sie mochte es nicht, wenn jemand rumgeschnüffelt hat.« Mit den Fingern deutet er die
Weitere Kostenlose Bücher