Sag niemals nie
blickte dem Lieferwagen nach, bis er um die Biegung der Auffahrt und gleich darauf hinter Pinien verschwand. Dann drehte sie sich um und kehrte langsam ins Schloss zurück. Schwüle Spätsommerluft erfüllte die Räume, und es roch nach Verfall. Niedergeschlagen blickte Anna sich in der einstmals prächtigen Eingangshalle um. Die graublauen Seidentapeten waren schimmlig und zerrissen. Wo die Arbeiter Gemälde abgenommen hatten, waren viereckige helle Flecken zurückgeblieben. Dunklere Stellen bezeugten die Folgen der Feuchtigkeit.
Das Geräusch ihrer Schritte hallte vom laubübersäten Fußboden wider, als Anna langsam die Treppe hinaufstieg. Es war ein Wunder, dass die Buntglaskuppel noch heil war. Ein Strahl der Nachmittagssonne warf schimmernde Lichtflecken auf die Stufen, und Anna lächelte wehmütig. Wie oft hatte sie als Kind versucht, die tanzenden Regenbogenmuster zu fangen! Als farbenfrohe Streifen waren sie auch auf das weiße Brautkleid gefallen, das sie in jenem Sommer bekommen hatte, als sie Hochzeit spielte.
Dem letzten Sommer vor dem Tod ihrer Mutter.
Anna fuhr zusammen, weil ihr Handy klingelte. Widerstrebend holte sie es aus der Handtasche.
Es war Felicity. Anna lauschte kurz und erwiderte dann: „Bin schon unterwegs, Fliss. Der Antiquitätenhändler und seine Leute sind fort, ich muss nur noch abschließen, dann fahre ich los.“
„Okay. Ich bestelle dir schon mal einen extra starken Martini.“ Die Stimme ihrer Freundin klang mitfühlend. „Nimmst du den Bus?“
„Nein. Einer der Jungs im Zeltlager von GreenPlanet hat ein Fahrrad, das er mir leiht. Es sind ja nur wenige Kilometer.“
Am anderen Ende der Leitung lachte Fliss spöttisch. „Soll das ein Witz sein, Anna? Niemand fährt am Hotel Paradis mit dem Fahrrad vor. Willst du dem Parkwärter das Rad übergeben, damit er es wegfährt?“
Anna stieg die schmale Treppe zum Dachboden hinauf und runzelte die Stirn. „Ach was! Warum sollte ich die Luft mit Abgasen verpesten? Doch nicht etwa nur, um den Parkwärtern des Paradis die Trinkgelder zu sichern!“
„Okay, okay, erspar mir die Umweltpredigt.“ Fliss’ Ton wurde ernst. „Da wir schon dabei sind, gefällt dir das Leben im Zeltlager von GreenPlanet noch? Oder hast du es schon aufgegeben, die Welt zu retten?“
Anna ging zu den gestapelten Kisten und alten Truhen hinüber, welche die Männer mitten auf dem staubigen Speicher zurückgelassen hatten. „Wir bleiben am Ball.“ Sie öffnete eine mit Metallbeschlägen verstärkte Truhe zu ihren Füßen und blickte in ein Wirrwarr von alten Kleidungsstücken. „Aber das Château Belle-Eden vor diesem … fiesen Grundstücksmensch zu retten, wäre ein guter Anfang.“
„Na ja, wenn meine Firma richtig informiert ist, handelt es sich bei dem ‚fiesen Grundstücksmenschen‘ um Angelo Emiliani. Und gegen den hast du nicht die geringste Chance.“ Als Anna leise seufzte, fragte Fliss beunruhigt: „Anna? Was ist los?“
„Nichts. Ich hab hier nur gerade die Truhe mit meinen alten Kostümen entdeckt. Alle meine Ballettsachen sind darin.“ Behutsam wandte sie die Bänder um ihre durchgetanzten Ballettschuhe. Dann zog sie behutsam ein zerknittertes cremefarbenes Satingebilde aus den Tiefen der Truhe. „Das Brautkleid!“
Anna hielt es hoch und betrachtete es verwundert. Damals war ihr das Kleid so perfekt erschienen. Jetzt erst bemerkte sie, wie zusammengestückelt es aussah. Im Lauf der Jahre war es vergilbt und hatte Stockflecken bekommen. Sie klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Ohr, hielt sich das Kleid an und drehte sich langsam um sich selbst.
„Wenn ich bedenke, dass ich mir darin tatsächlich wie eine Braut vorkam, wie eine Märchenprinzessin …“, nachdenklich schwieg sie einen Moment. „Wie naiv ich damals war.“
Unvermittelt ließ Anna das Kleid sinken und warf es in die Truhe zurück. „Aber wie gesagt, Fliss“, fuhr sie sachlich fort, „hier gibt es für mich nichts mehr zu tun. Ich fahre los.“
„Fein. Ich bin auf der Terrasse, das heißt, falls ich dort einen Tisch für uns bekomme. Saskia Middleton feiert heute ihren einundzwanzigsten Geburtstag. Zieh also etwas Passendes an“, erinnerte sie Anna leicht besorgt. „Ich habe mich immer noch nicht ganz von deinem Auftritt im Ballonrock und Wanderstiefeln zu Lucindas Weihnachtsparty erholt. Ihre arme Mutter wusste nicht, was sie sagen sollte.“
Anna blickte an ihrem schlichten schwarzen Kleid herab. „Keine Panik, ich sehe anständig aus“,
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