Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition)
Fotograf das Bild knipste. Das zweite war ein Foto seines Bruders Jonathan in vollem Football-Ornat, aufgenommen auf dem Höhepunkt seiner physischen Leistungsfähigkeit und seines sportlichen Ruhmes. Er hatte ein Football-Stipendium der staatlichen Universität von Ohio erhalten. Aber obwohl er in einer Stadt wie Warden ein Gott unter den Sportlern gewesen war, erwies sich seine College-Karriere als nicht gerade spektakulär, und sein Traum, eines Tages in der NFL zu spielen, erfüllte sich nicht. Das Letzte, das ich von ihm gehört hatte, war, dass er irgendwo im mittleren Westen Sportlehrer geworden sei.
So ergreifend die beiden ersten Fotos auch waren, besonders wenn man daran dachte, wie seine Familie ihn all die Jahre behandelt hatte, das dritte traf mich noch härter als die anderen. Ich stand in seinem Wohnzimmer inmitten all der Unordnung und starrte das Bild mit offenem Mund an. Ich erinnerte mich so deutlich an den Abend, an dem es aufgenommen worden war, als ob seitdem nur Tage und nicht Jahre vergangen wären.
Onkel war mit uns beiden zu einem Jahrmarkt gegangen, der eines Sommers in Warden stattgefunden hatte. Irgendwann hatten wir angehalten und hatten uns hinter eine Gipswand gestellt, auf deren Vorderseite die kopflosen Körper von zwei gut bemuskelten Bodybuildern abgebildet waren. Die Leute, die sich fotografieren lassen wollten, stellten sich hinter die Wand und legten das Kinn auf den abgeschnittenen Teil, sodass die Illusion entstand, dass Körper und Kopf zu ein und derselben Person gehörten. Dahinter standen die hellen Lichter eines Riesenrads vor dem Abendhimmel. Boone und ich – beide elf Jahre alt – starrten mir von einem Ort und aus einer Zeit entgegen, die gewöhnlich der nebeligen Landschaft der Träume und der fernen Erinnerungen vorbehalten sind.
»Tut mir leid, Mann, dass es hier so unordentlich ist. Ich muss hier wirklich aufräumen.« Boone lief an mir vorbei und raffte die schmutzige Wäsche von der Couch zusammen. »Willst du – willst du dich nicht setzen?«
Ich setzte mich vorsichtig auf die Sofakante, während er in einen kleinen Gang zwischen dem Wohnraum und einer winzigen Kochnische am anderen Ende der Wohnung stolperte. Das Spülbecken quoll über von schmutzigem Geschirr, und auf dem Küchentisch stapelten sich die Post und alte Zeitungen. Abgesehen von einem alten Rolling-Stones-Poster und einem aus dem Hustler oder einem ähnlichen Magazin, auf dem eine unbekleidete, vollbusige Brünette abgebildet war, waren die Wohnzimmerwände kahl und in einem bläulichen Grau gestrichen, dass die ohnehin schon düstere Wohnung noch bedrückender erscheinen ließ.
Boone warf den Wäschehaufen in den Gang, dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück und stellte sich vor mir auf. Er sah aus wie ein Kind, das plötzlich ins Büro des Schuldirektors beordert worden ist. »Lieber Gott«, sagte er dümmlich. »Ich kann – ich kann kaum glauben, dass du Schnösel hier sitzt.«
Ich brauchte mehrere Sekunden, um mir eine passende Antwort auszudenken, weil ich mich eigentlich dafür entschuldigen wollte, dass ich ihn so lange nicht besucht hatte, dass ich unsere Freundschaft hatte einschlafen lassen, aber stattdessen lächelte ich, zuckte die Achseln und fragte: »Wie steht es bei dir, Boone? Bist du okay?«
»Ja, ich meine – na ja, ich trag’s mit Fassung.«
Das Letzte, was ich von ihm gehört hatte, war, dass er in einer Fischfabrik in der Stadt arbeitete, aber es sah so aus, als hätte er seine Wohnung seit Monaten nicht verlassen, schon gar nicht, um zur Arbeit zu gehen. »Arbeitest du noch in dieser Fabrik?«
»Nö, ich bin im Moment, na ja, so was Ähnliches wie zwischen zwei Jobs.« Er stopfte die Hände in die Taschen seiner Trainingshose und schlurfte unbeholfen herum, wobei er das rechte Bein stärker belastete als das linke. »Nachdem ich so ein anmutiger Vollidiot bin, bin ich vor ein paar Monaten die Treppe runtergefallen und hab mir das Knie ziemlich übel zugerichtet. Ein kleiner Rat für dich, eine Treppe runterzuhopsen, wenn man einen Viertelliter Wodka getrunken hat, ist bei Weitem keine so gute Idee, wie man sich das in dem Augenblick vorstellt.«
Dieses Aufblitzen seines früheren Humors entlockte mir ein kurzes Lachen, aber es war mehr Höflichkeit als eine echte Reaktion. An Desmond Boone war nichts mehr lustig.
»Das Knie wurde ein paarmal operiert, und ich musste diesen ganzen Therapiescheiß durchmachen, aber die Ärzte haben mir gesagt, es wird nie
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