Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition)
Ort aus über uns wachte, der wollte, dass wir ihm zuhörten, uns aber nicht dazu zwingen konnte. Die meiste Zeit bewegten wir uns und gingen miteinander um wie Fremde, die gemeinsam ein Gästehaus bewohnen und behutsam und leise allen Verrichtungen nachgehen, die das tägliche Leben erfordert.
Angela begann allmählich, aus ihrem bisherigen Zustand aufzutauchen. Sie und ich verbrachten jeden Morgen ein paar gemeinsame Minuten am Küchentisch. Unser gewöhnlich lärmendes Betragen und unsere von Lachen erfüllten Gespräche gehörten der Vergangenheit an und hatten einem unbehaglichen Schweigen Platz gemacht. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen wir miteinander redeten, ging es um die tägliche Routine, aber niemals um das, was passiert war. Angela war abwesend, selbst wenn sie direkt neben mir saß, in Gedanken verloren, zu denen kein anderer Zugang hatte.
Eines Nachmittags ging ich in ihr Zimmer und fand sie am Fußende ihres Bettes sitzend, umgeben von ihren Stofftieren. Sie hatte sie in gleichmäßigen Kreisen so um sich herumgesetzt, dass ihre Gesichter ihr zugewandt waren. Ihre gläsernen Augen bewachten sie, ihre Stoffgliedmaßen waren ausgestreckt, um sie zu beschützen. Sie selbst saß mit gekreuzten Beinen in der Mitte und hielt ihre Lieblingspuppe in den Armen, den Kopf geneigt, das Kinn auf ihre Schulter gesenkt. Mit schmalen Lippen flüsterte sie der Puppe unhörbare Worte zu.
Angela sah auf, als ich über die Schwelle trat, und einen Augenblick lang glaubte ich, sie würde vielleicht lächeln. Aber sie blinzelte mir nur mit ihren schönen Augen zu. Es war ein langsames, bedächtiges Blinzeln, mit dem sie mich wissen ließ, dass sie so nahe daran war, sich wieder besser zu fühlen, wie sie es in den kommenden Tagen nur sein konnte. Dann wandte sie sich wieder ihrem Gespräch mit ihrer Puppe zu. In ihrem eigenen Schmerz und Zorn, in ihrer Verwirrung und Angst hatte sie Zuflucht und Trost darin gefunden, ein Baby zu trösten, ein Baby nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Plastik. In diesem Augenblick erschien das vollkommen sinnvoll und führte mir so deutlich vor Augen, wer Angela tatsächlich war, wie sie es in Worten niemals hätte ausdrücken können. Noch nie hatte ich so sehr das Bedürfnis gehabt, meine Schwester in die Arme zu nehmen. Ich trat in den Raum, beugte mich vor und küsste sie auf den Scheitel, wie Onkel es so oft tat.
Nach kurzem Zögern ging ich zu einem Schaukelstuhl in einer Ecke des Zimmers und ließ mich nieder. Ich unterbrach sie nicht und sprach kein Wort, ich saß einfach nur da und wachte über Angela und war zum ersten Mal in der Lage, in ihrer Nähe, mit ihr zusammen zu sein, ohne vor meinem geistigen Auge die entsetzlichen Bilder zu sehen. Davor hatte ich sie jedes Mal, wenn ich an sie dachte, sie ansah oder auch nur hörte, wie sie im Haus herumging, unter heftigen Schuldgefühlen mit dem Grauen in Verbindung gebracht, das sie hatte ertragen müssen. Für mich war beides ein und dasselbe geworden, und erst von diesem sonst so unbedeutenden Augenblick an war ich wieder in der Lage, ihr Gesicht, ihren kleinen Körper, ihre Bewegungen und Geräusche von dem zu trennen, was mit ihr geschehen war, was ihr angetan worden war. Mit dieser neu entdeckten Offenbarung gewann ich die Fähigkeit zurück, meine Schwester – und nur meine Schwester – so zu sehen, wie ich es früher getan hatte. Da waren nur Angie und ich, und so kurzlebig dieser Augenblick auch gewesen sein mag oder auch nicht, zunächst einmal waren wir wieder gesundet.
Vielleicht lag es an dieser Erleuchtung oder dem, was daraus entstand, das Gefühl der Anwesenheit von etwas Heiligem, das ich in unserem Haus gespürt hatte, wurde stärker. Es strahlte Liebe und Wärme, Akzeptanz und Hoffnung aus und verdrängte alle Dunkelheit, wenn auch nur für kurze Zeit. Es war erfreut, und für die wenigen Stunden dieses Nachmittags waren wir es auch.
Als ich Angelas Zimmer verließ, verschwand die Wärme, und ich wurde wieder von der Außenwelt geschluckt. Den Rest des Tages verbrachte ich am Gartentisch hinter dem Haus und starrte auf ein leeres Blatt Papier, das ich in meine Schreibmaschine eingespannt hatte. Ich suchte vergebens nach Worten, die irgendeine Bedeutung hatten, als wäre ich ein Schlafwandler, der sich seiner eigenen Existenz nur vage bewusst ist.
Meine Mutter war die meiste Zeit im Arbeitszimmer, trank und starrte die Wände an. Vor dem späten Nachmittag war sie selten geduscht und angezogen, am
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