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Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition)

Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition)

Titel: Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg F. Gifune
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geworden zu sein. Er blinzelte mit verzerrtem Gesicht in das einfallende Licht. Er war entweder verkatert oder gerade erst aufgewacht. Vielleicht beides.
    »Boone«, sagte ich lächelnd. »Wie gut, dich zu sehen.«
    Er starrte mich einen Augenblick lang an, als versuchte er, mich einzuordnen. Er war immer noch ziemlich dick, trug ein altes Sweatshirt und eine ebenso alte Hose und sah so schlampig aus wie eh und je. Sein einst so widerspenstiger roter Haarschopf war nur noch eine Erinnerung, denn er war fast vollständig kahl, sein Gesicht war verquollen und blass und sah ungesund aus.
    »Boone? Geht es dir gut?«
    Diesmal antwortete er mit einem unbeholfenen Nicken und wischte sich verlegen die Hände an seinem Hemd ab. »Andy«, stammelte er schließlich. »Mein Gott noch mal, ich – ich habe nicht erwartet, dich hier stehen zu sehen. Ich dachte, es wäre jemand, der eine Rechnung eintreiben wollte oder irgend so ein Kerl, der irgendwas verkaufen will.«
    »Ich bin für ein paar Tage wieder in der Stadt, und ich wollte dich unbedingt sehen.«
    »Ja«, murmelte er. »Ich habe davon gehört – es tut mir wirklich leid, was da mit deinem Onkel passiert ist.«
    »Mir auch.« Ich schüttelte den Schnee von meinem Mantel. »Kann ich reinkommen oder passt es dir gerade nicht?«
    Boone schien angestrengter über meine Frage nachzudenken, als eigentlich nötig. »Hm, ja – sicher, es ist ziemlich unordentlich hier drin … Ich hatte diese Woche noch keine Zeit zum Aufräumen, aber ja – natürlich Mann, komm rein.«
    Das Innere der Wohnung war dunkel, muffig und unordentlich. Eine Welle von Gerüchen schlug mir entgegen, eine seltsame Mischung aus verdorbenem Essen, abgestandener Luft und Körpergeruch, die so stark war, dass ich das Bedürfnis unterdrücken musste, mir die Hand vor das Gesicht zu halten und Nase und Mund zu bedecken.
    Irgendwie hatte ich das Gefühl, als sei ich in einen geheiligten Zufluchtsort eingedrungen und hätte durch das einfache Betreten der Wohnung ein Geheimnis unserer Kindheit gelüftet. So viele Jahre lang war diese Wohnung als der Ort bekannt gewesen, an dem der arme »verrückte« Wiley wohnte. Und es waren so viele Geschichten darüber im Umlauf gewesen, wie es da drinnen aussah und was er innerhalb dieser vier Wände tat oder auch nicht, dass sie zur Legende geworden war, zu einem der Orte, über die die Kinder an Halloween sprachen oder über die sie miteinander flüsterten, wenn sie bei Freunden übernachteten. Wir hatten Wiley alles nur Denkbare vorgeworfen, vom Sammeln von Leichen in der Wohnung bis hin zu seltsamen Experimenten, die er angeblich an arglosen Kindern durchführte, die er entführte – natürlich lauter Dummheiten, die aber die Art von Nahrung waren, von der die Fantasie von Kindern im vorpubertären Alter lebt.
    Jetzt, wo ich hier stand, war die Wohnung alles andere als geheimnisvoll, und ich musste an die Tage zurückdenken, als Boone und ich zwei Kinder waren, die auf ihren Fahrrädern saßen und beobachteten, wie Wiley hier ein- und ausging, ohne zu ahnen, dass das Schicksal beschlossen hatte, dass auch Boone eines Tages hier landen würde. Angesichts seines seltsamen Aussehens, seines exzentrischen Betragens und seines armseligen Lebensstils fragte ich mich, ob sich die Kinder in der Stadt heute die gleichen törichten Geschichten über Boone erzählten, die wir damals über Wiley verbreitet hatten.
    Als meine Augen sich an die plötzliche Dunkelheit gewöhnt hatten, fand ich mich in einem überfüllten Wohnraum mit niedriger Decke und einem großen fleckigen Teppich in der Mitte des Fußbodens wieder. Kleidungsstücke, leere Pizzaschachteln und ein Sortiment leerer Schnapsflaschen lagen von einem Ende des Zimmers zum anderen verstreut. An einer Wand stand ein Regal, auf dem in einem Fach ein kleiner Fernseher und in einem anderen ein Lautsprecher untergebracht waren. Auf dem Regal standen drei vom Alter verblasste, gerahmte Fotografien, die durch den Schmutzfilm auf dem Glas kaum noch zu erkennen waren. Auf einem Foto war Boone mit seinem Bruder und seinen Eltern abgebildet, ein gestelltes, übermäßig förmliches Bild, das an die Familienportraits der Sechzigerjahre erinnerte. Boone war auf dem Foto noch sehr klein, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, mit den blanken Augen und dem denkwürdigen, widerspenstigen roten Haarschopf, die schon damals seine hervorstechendsten Eigenschaften waren. Er grinste breit, als hätte er über etwas gelacht, als der

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