Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition)
wieder so werden wie früher. Jedenfalls kriege ich jetzt eine Behindertenrente. Das ist zwar beschissen wenig – ich versuche einen Monat lang mit dem auszukommen, was ich früher in einer Woche ausgegeben habe – aber was, zum Teufel, soll man machen?« Er hinkte zu einem Sessel gegenüber der Couch und ließ sich hineinfallen, ohne sich die Mühe zu machen, Müll und Kleidungsstücke hinunterzuwerfen. »Wie geht es dir mit dem Unterrichten? Machst du das immer noch?«
»Ja, mach ich.«
Sein Gesicht hellte sich ein wenig auf. »Schreibst du immer noch deine Geschichten?«
»Hin und wieder ... Aber nicht mehr sehr oft.«
»Das ist schade«, sagte er leise. »Du hast immer die coolsten Geschichten geschrieben.«
»Die Dinge ändern sich nun mal.«
»Das kannst du laut sagen.« Er wandte die Augen unsicher ab. »Manchmal sehe ich deine Mutter in der Stadt. Sie sagt, du hast geheiratet.«
»Schon vor zehn Jahren.«
Er nickte. »Das ist eine lange Zeit.«
»Die Jahre zwischen dreißig und vierzig fliegen einfach an mir vorbei.«
»Es geht verdammt schnell. Zu schnell, wenn du mich fragst.«
»Ja wirklich.«
»Als wir und das letzte Mal gesehen haben hast du gesagt, du wärest verlobt oder so.« Er kratzte sich den Kopf. »Erinnerst du dich noch, wie wir damals zusammen Mittag gegessen haben?«
Ich erinnerte mich. Ich war kurz nach Hause gekommen, um meine Mutter zu besuchen, und hatte mich mit Boone zum Mittagessen verabredet. Wir waren mehrere Jahre lang nicht mehr zusammen gewesen. Obwohl das Wiedersehen wirklich erfreulich verlief, waren wir auch verlegen und ein bisschen angespannt. Unser Leben hatte sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt, und obwohl er nichts dafür konnte, stand Boone für mich für eine Vergangenheit, die ich gerne vergessen wollte. Er war die Verbindung zu einer Zeit und zu Ereignissen, die ich hinter mir lassen wollte, und ich war mir sicher, dass ich für ihn in vieler Hinsicht Ähnliches darstellte. Wir teilten das gleiche Geheimnis, und dieses Geheimnis verfolgte uns beide, damals und jetzt.
Seitdem hatte ich ihn nicht wieder gesehen.
»Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe«, brachte ich schließlich hervor. »Ich freue mich wirklich, dich zu sehen.«
»Ich freue mich auch, Mann.« Er lächelte, und diesmal war sein Lächeln echt. »Kannst du das glauben, dass ich in der alten Wohnung vom verrückten Wiley lebe?«
Ich hatte nicht vorgehabt, etwas darüber zu sagen, aber nachdem er es nun schon mal erwähnt hatte, spielte ich mit. »Als ich dich das letzte Mal sah, wohntest du immer noch in eurem alten Haus.«
»Nun ja, vor sieben Jahren ist mein Vater gestorben.«
Trotz meiner Erinnerungen an den Mann und die Grausamkeit, mit der er seinen Sohn behandelt hatte, äußerte ich die üblichen Beileidsbekundungen.
»Ein paar Jahre später wurde meine Mutter krank, und ich musste sie in ein Pflegeheim bringen. Alzheimer ist eine entsetzliche Scheiße, Mann, eine entsetzliche Scheiße. Zum Schluss hat sie nicht mal mehr gewusst, wer ich bin.«
Er starrte auf den Fußboden, als ob ihm eine bestimmte Episode eingefallen wäre. Eine Sekunde später tauchte er mit einem hilflosen Achselzucken aus seiner Erinnerung auf. »Sie haben alles genommen, um ihre Pflege damit zu bezahlen – sogar ihr Haus –, kannst du das glauben? Sie und mein Vater haben ihr Leben lang gearbeitet. Sie wird krank, bevor ihre Zeit gekommen ist, und muss in ein Pflegeheim, und diese Schufte nehmen alles, wofür sie all die Jahre lang gearbeitet haben. Jonathan und ich sollten dieses Haus erben. Am Ende haben wir gar nichts bekommen. Sie haben mich auf die Straße gesetzt, und ich musste eine Wohnung finden, und diese hier war die einzige, die ich mir leisten konnte. Jonathan war das ziemlich egal. Er hat sein eigenes Haus und eine Frau und Kinder, das ganze Drum und Dran, weißt du? Er ist auch Lehrer, allerdings Sportlehrer. Passend, oder? Wer’s kann, der macht es. Wer’s nicht kann, unterrichtet. Wer nicht unterrichten kann, unterrichtet Sport. «
Es war ein alter Witz, den ich bereits kannte, aber ich lachte pflichtschuldig.
»Jedenfalls ist meine Mutter vor ein paar Jahren auch gestorben.«
»Das tut mir leid, Boone.«
»Danke.« Ein einsames Grinsen erhellte sein Gesicht. »Sowie dieses Knie wieder kräftig genug ist, fange ich wieder an zu arbeiten. Ich weiß noch nicht genau, was ich mache, aber ich habe daran gedacht, fortzuziehen. Ich wollte schon immer nach
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