Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition)
Onkel war, wenn er glücklich war.«
»Wie ein kleines Kind.«
Sie lachte zur Bestätigung, aber ihre Tränen brachen trotz ihres Lachens hervor, oder vielleicht gerade deswegen. »Ich habe den Onkel geliebt, Andy, und das werde ich auch immer. Aber jetzt ist er tot. Er ist aus all dem raus, und das gilt auch für uns.«
Ich wollte ihr glauben, also tat ich es. »Meinst du, Mom sieht das auch so?«
Auf ihrem Gesicht erschien ein stilles, trauriges kleines Lächeln. »Ich hoffe es.«
Nach einem kurzen Moment ging Angela den Gang entlang zurück, legte ihren Arm um meine Schulter und drehte mich zur Tür. »Komm schon«, flüsterte sie. »Lass uns nach Hause gehen.«
16
Ich parkte vor dem Haus. In der Küche brannte Licht. Ich konnte meine Mutter sehen, die mit einem Drink in der Hand über den Tisch gebeugt saß und den Tod ihres Bruders betrauerte. Sie lebte nun allein in den Räumen, die wir einmal mit ihr geteilt hatten, die Concierge für die Geister in einem längst verlassenen Refugium.
Ich träume oft von meiner Mutter in diesem Haus. Selbst im Alter büßt sie noch immer für unsere Sünden. Sie ist noch immer in dem Kokon gefangen, den wir ihr aufgezwungen hatten und in dem wir sie dann zurückließen. Der Traum ist immer der gleiche. Meine Mutter geht langsam einen dunklen Gang entlang. Die Zimmerdecke ist niedrig und der Raum zwischen den Wänden schmal. Das einzige Licht kommt von einer Kerze, die sie in einem verschnörkelten Zinnkerzenhalter trägt, den ich noch nie zuvor gesehen habe.
Wenn der Traum anfängt, sehe ich sie in ziemlich großer Entfernung am hinteren Ende des Korridors. Dann kommt sie näher heran, barfuß in einem naturweißen Nachthemd, das beinahe bis zum Boden reicht. Bei jedem Schritt schaukelt der Saum mit einem seltsam flüsternden Geräusch vor und zurück, das so klingt, als ob sie jemanden zum Schweigen veranlassen wollte. Sie hält die Kerze hoch und vor sich ausgestreckt, wie ein Minenarbeiter, der sich verlaufen hat, kommt noch näher und erreicht schließlich eine Tür am Ende des Gangs.
Die Tür öffnet sich mit einem Knarren. Sie tritt in ein bescheidenes Zimmer. Durch die Fenster fällt ein schwaches, weiches Tageslicht. Ich vermute, es ist früher Morgen, vielleicht die kurze Zeitspanne unmittelbar nach der Dämmerung, in der sich die Welt in einem Schwebezustand irgendwo zwischen völliger Helligkeit und völliger Dunkelheit befindet, eine Zeit, zu der die Magie lebendig und gesund erscheint, zu der alles – selbst ein Wunder – möglich ist.
Das Zimmer ist kahl – bis auf einen niedrigen, langen Tisch, an dessen Ende eine Porzellanschüssel und zwei Stapel ordentlich gefalteter Handtücher stehen.
Als sich meine Mutter dem Tisch nähert, sehe ich sie deutlicher. Ihr Haar ist zu einem französischen Knoten geschlungen, der sich allmählich löst und auseinanderfällt. Das Haar nahe ihrer Kopfhaut ist zu einem stumpfen Silberton verblasst und die Falten in ihrem Gesicht wirken viel ausgeprägter, als seien sie von einem Künstler mit einem feinen, scharfen Werkzeug eingegraben worden. Ihre Augen sind müde, aber aufmerksam, weise, wie es nur die Augen einer Mutter sein können.
Sie stellt die Kerze auf den Tisch und blickt hinunter in die Schüssel. Ein dicker, wabernder Schwamm treibt auf dem Wasser. Sie greift danach, zieht ihn heraus und wringt ihn aus. Das Wasser tropft laut in die Schüssel.
In diesem Moment bemerke ich, dass das Wasser leicht rötlich ist, fast rosa.
Meine Mutter wäscht ihre Hände in dem leicht kirschfarbenen Wasser, fährt mit dem Schwamm über ihre Handgelenke und Unterarme – Lady Macbeth, zum Leben erwacht, das Blut in ihren Visionen verdünnt, aber lebendig. Sie legt den Schwamm zurück in die Schüssel und trocknet sich mit einem der Handtücher ab. Das Handtuch ist so weiß, dass es deplatziert erscheint, aber das nimmt meine Mutter nicht zur Kenntnis, sie trocknet sich mit langsamer Effizienz ab und wirft das Handtuch als geknüllten Haufen auf den Tisch.
Sie geht zu einem der Fenster. An der Wand befinden sich drei schmale, aber hohe, unterteilte Fenster mit rüschenbesetzten Spitzenvorhängen. Dahinter ist noch immer schwaches Licht, aber sonst nichts, Leere im Licht. Sie steht am mittleren Fenster und starrt hindurch, auf nichts.
Aus einer Reihe breiter Risse in der Decke beginnt Schnee in das Zimmer zu fallen wie elegante Flaumfedern. Meine Mutter lächelt und hebt die Hände, als wolle sie sie fangen, wirft den
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