Sagen des klassischen Altertums
jetzt spät ist, doch immer noch das beste, wenn wir die Ursache dieses ganzen Krieges, die Fürstin Helena mit allem dem, was sie uns aus Sparta zugebracht hat, den Griechen wieder auslieferten, ehe sich die Feinde in unsre Habe geteilt und die Stadt mit Feuer verzehrt haben.«
Dieser Rede gaben die Trojaner zwar im Herzen stillen Beifall, doch wagten sie nicht, ihrem Könige laut zu widersprechen. Auf der andern Seite erhub sich Paris, Helenas Gemahl, und beschuldigte den Schutzredner der Griechen, wie er Polydamas nannte, der äußersten Feigheit. »Ein Mann, der dazu raten kann, würde im Felde der erste sein, der die Flucht ergriffe«, sprach er. »Besinnet euch wohl, Trojaner, ob es klug gehandelt ist«, sprach er, »dem Rate eines solchen zu folgen!«
Polydamas wußte wohl, daß Paris von Helena nicht lassen würde und eher einen Aufruhr im Heere erregen, ja selber sterben, ehe er auf sie verzichtete; darum schwieg er, und die ganze Versammlung mit ihm.
Als sie noch sinnend im Rate saßen, kam die frohe Botschaft, daß Memnon im Anzuge sei. Den Trojanern ward zumute wie Schiffern, die, dem Tode schon im Rachen, nach dem furchtbarsten Sturme die Sterne wieder am Himmel schimmern sehen; vor allen aber freute sich der König Priamos, denn er zweifelte nicht, daß es der Überzahl der Äthiopier gelingen müßte, die feindlichen Schiffe zu verbrennen.
Als daher Memnon, der hohe Sohn der Eos, angekommen war, ehrte der König ihn und die Seinen durch die herrlichsten Gaben und Festmahle. Das Gespräch wurde wieder heiter, und sie gedachten in Ehren der gefallenen Trojanerhelden. Memnon aber erzählte von seinem unsterblichen Elternpaare, Thitonos und Eos; ein andermal vom endlosen Weltmeere und wiederum von den Grenzen der Erde, vom Aufgang der Sonne 220
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
und von dem ganzen weiten Wege, den er von den Ufern des Ozeans bis zu den Höhen des Berges Ida und der Stadt des Königes Priamos zurückgelegt, und was für Heldentaten er unterwegs verrichtet habe. Ihm lauschte der Trojanerkönig mit Wohlgefallen; voll Wärme ergriff er seine Hand und sprach: »Memnon, wie danke ich den Göttern, daß sie mir, dem Greise, gegönnet haben, dich und dein Heer noch zu erblicken und dich selbst in meinem Palaste zu bewirten! Fürwahr, du gleichest mehr als irgendein Sterblicher den Göttern, und deswegen hege ich die Zuversicht zu dir, daß du unter unsern Feinden mit furchtbarem Gemetzel wüten werdest!« Mit diesen Worten hob der König einen Pokal aus gediegenem Golde und trank ihn dem neuen Bundesgenossen zu. Memnon betrachtete staunend ringsum den herrlichen Becher, der ein Werk Hephaistos' und ein Erbstück der trojanischen Königsfamilie war; dann erwiderte er: »Nicht beim Schmause ziemt es sich zu prahlen und zuversichtliche Verheißungen zu tun; ich antworte dir daher nicht, o König, sondern freue mich jetzt in Ruhe des Mahles und will im Geiste das Nötige vorbereiten. In der Schlacht muß es sich zeigen, ob ein Mann ein Held sei. Nun aber laß uns bald zur Ruhe gehen; denn dem, der die Entscheidung des Kampfes erwartet, schadet ein übermäßiger Genuß des Weines und eine durchschwärmte Nacht.«
Damit erhob sich der besonnene Memnon vom Mahle, und Priamos hütete sich, seinen Gast zu längerem Bleiben zu nötigen. Auch die übrigen Gästen gingen zur Ruhe, und alles überließ sich dem wohltuenden Schlafe.
Während nun die Sterblichen auf der Erde schlummerten, saßen die Götter im olympischen Palaste des Zeus noch beim Schmause und besprachen sich über den Kampf um Troja. Zeus, der Sohn des Kronos, dem die Zukunft deutlich war wie die Gegenwart, nahm zuletzt das Wort und sprach: »Es ist vergebens, daß ihr sorget, der eine für die Griechen, der andre für die Troer. Noch unzählige Rosse und Männer werdet ihr auf beiden Seiten im Kampfe dahinsinken sehen. Sosehr euch nun mancher, der des einen oder des andern Freund ist, am Herzen liegen mag, so lasse sich doch keiner von euch einfallen, sich mir deshalb mit Bitten zu nahen und für einen Sohn oder einen Freund zu flehen: denn die Schicksalsgöttinnen sind unerbittlich für mich wie für euch!« Keiner der Unsterblichen wagte es, dem Göttervater zu widersprechen; schweigend verließen sie das Mahl, und jeder in seinem Hause warf sich traurig auf das Lager, bis auch der Götter sich der Schlaf erbarmte.
Am anderen Morgen stieg Eos nur widerstrebend am Himmel auf, denn auch sie hatte das Wort des Zeus
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