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Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustav Schwab
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erwarteten wir mit unterdrückten Seufzern den Morgen. Er kam; und die männliche Herde sprang zuerst hüpfend aus der Höhle auf die Weide. Nur die Weibchen blökten noch mit strotzenden Eutern in den Ställen. Ihr geplagter Herr betastete jedem Widder, der hinausging, sorgfältig den Rücken, ob kein Flüchtling darauf sitze; an den Bauch und meine List dachte er in seiner Dummheit nicht. Nun wandelte auch mein Bock langsam zur Felsenpforte, schwer beladen mit Wolle, noch schwerer mit mir, der ich unter allerlei Gedanken mich dahintragen ließ.
    Auch ihn streichelte Polyphemos und sprach: ›Gutes Widderchen, was trabst du so langsam hinter der übrigen Herde aus der Höhle heraus? Du leidest ja sonst nicht, daß andere Schafe dir vorangehen; du bist sonst immer der erste bei den Wiesenblumen und am Bach und abends der allererste wieder im Stalle.
    Betrübt dich das ausgebrannte Auge deines Herrn? Ja, hättest du Gedanken und Sprache wie ich, gewiß, du sagtest mir, in welchem Winkel sich der Frevler mit seinem Gesindel verbirgt: dann sollte mir sein Gehirn von der Höhlenwand spritzen und mein Herz wieder froh werden vom Leide, das der Niemand über mich gebracht!‹
    So sprach der Zyklop und ließ den Widder auch hinausgehen. Und nun waren wir alle draußen. Sowie wir ein wenig von der Felskluft entfernt waren, machte ich mich zuerst von meinem Bocke los und löste dann auch meine Freunde ab. Wir waren unsrer leider nur noch sieben, umarmten uns mit herzlicher Freude und jammerten um die Verlorenen. Doch winkte ich ihnen, daß keiner laut weinen, sondern daß sie mit den geraubten Widdern sich schnell nach unsern Schiffen mit mir aufmachen sollten. Erst als wir wieder auf unsern Ruderbänken saßen und durch die Wogen dahinschifften, auf einen Heroldsruf vom Ufer entfernt, schrie ich dem am Uferhügel mit seiner Herde bergwärts hinanklimmenden Zyklopen meine Spottrede zu:
    ›Nun, Zyklop, du hast doch keines schlechten Mannes Begleiter in deiner Höhle gefressen! Endlich sind dir deine Freveltaten vergolten worden, und die Strafe des Zeus und der Götter hast du empfunden!‹
    Als der Wüterich dieses hörte, wurde sein Grimm noch viel größer. Er riß einen ganzen Felsblock aus dem Gebirge heraus und warf ihn nach unserem Schiffe. Auch hatte er so gut gezielt, daß er das Ende unseres Steuerruders nur um ein weniges verfehlte. Aber von dem niederstürzenden Blocke schwoll die Flut an, und die rückwärtswallende Brandung riß unser Schiff wieder ans Gestade zurück. Mit aller Gewalt mußten wir die Ruder anstrengen, um dem Ungeheuer aufs neue zu entfliehen und vorwärtszukommen. Nun fing ich abermals an zu rufen, obgleich mich die Freunde, die einen zweiten Wurf befürchteten, mit Gewalt abhalten wollten. ›Höre, Zyklop‹, schrie ich, ›wenn dich je einmal ein Menschenkind fragt, wer dir dein Auge geblendet, so sollst du eine bessere Antwort geben, als du sie deinen Zyklopen erteilt hast! Sag ihm nur: der Zerstörer Trojas, Odysseus, hat mich geblendet, der Sohn des Laërtes, der auf der Insel Ithaka wohnt!‹ So rief ich. Heulend schrie der Zyklop herüber: ›Wehe mir! So hat sich denn die alte Weissagung an mir erfüllt!
    Denn einst befand sich unter uns ein Wahrsager mit Namen Telemos, des Eurymos Sohn, welcher hier im Lande der Zyklopen alt geworden ist. Dieser hat mir gewahrsagt, daß ich dereinst durch Odysseus das Gesicht verlieren sollte. Da meinte ich dann immer, es sollte ein stattlicher Kerl daherkommen, so groß und stark, wie ich selber bin, und sollte sich mit mir im Kampfe messen. Und nun ist dieser Wicht gekommen, dieser Weichling, hat mich mit Weine berückt und mir im Rausch das Auge geblendet! Aber komm doch wieder, Odysseus! Diesmal will ich dich als Gast bewirten, will dir vom Meeresgott sicheres Geleite erflehen, denn wisse, ich bin der Sohn Poseidons. Auch kann nur er und kein anderer mich heilen!‹ Jetzt aber fing er an, zu seinem Vater Poseidon zu beten, daß er mir die Heimkehr nicht vergönnen solle. ›Und kehrt er jemals 292
    Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
    zurück‹, endete er, ›so sei es wenigstens so spät, so unglücklich, so verlassen als möglich, auf einem fremden Schiffe, nicht auf dem eigenen; und zu Hause treffe er nichts als Elend an!‹
    So betete er, und ich glaube, der finstere Gott hat ihn gehört. Auch ergriff er einen zweiten, noch viel größeren Felsblock und schleuderte ihn uns nach. Auch diesmal verfehlte er uns nur um ein weniges.

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