Sagen des klassischen Altertums
Stamm bebt, fallende Blätter decken den Boden, sie aber haftet fest im Felsenboden, und so hoch ihr Scheitel in die Luft ragt, so tief streckt sie ihre Wurzeln hinunter in die Tiefe – geradeso wurde der Held von den beiden Schwestern mit Bitten bedrängt, und er fühlte auch in seinem edlen Herzen alle die Qualen; aber er blieb unbeweglich wie die Eiche.
Jetzt erst erkannte Dido den Willen des Schicksals und wünschte sich den Tod, ja sie mochte den Himmel 352
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
über sich nicht mehr sehen. Noch mehr bestärkte sie in ihrem Entschlusse zu sterben, das schreckliche Zeichen, das ihr der Himmel beim neuesten Opfer vor Augen stellte, wo der aus der Schale gegossene helle Wein sich in schwarzes Blut verwandelte. Dieses Vorzeichen erzählte sie niemand, selbst der Schwester nicht. Seitdem dachte sie nur darauf, wie sie alle die Ihrigen täuschen und sich auf die sicherste Weise den Untergang bereiten könnte. Deswegen trat sie mit heiterer Miene, Hoffnung in den Augen und das gräßliche Vorhaben sorgfältig verbergend, vor die Schwester und sprach: »Preise mich glücklich, liebe Anna! Ich habe ein Mittel gefunden, das mir den Treulosen entweder zurückgeben oder mich von meiner Liebe befreien muß. Eine Äthiopierin, die in den Hesperidengärten des Tempels dieser Göttinnen pflegt, ist hier und verspricht mir durch ihren Zaubergesang entweder das Herz des Geliebten zu gewinnen oder mein eigenes der Liebe los und ledig zu machen. Sie hat aber dazu gewisse Gebräuche vorgeschrieben. Nun nehme ich selbst in einer Sache, die mich so nahe betrifft, nicht gerne meine Zuflucht zu magischen Künsten; deswegen beschwöre ich dich, liebste Schwester, errichte mir, wie die Zauberin vorgeschrieben, im innern Schloßhofe heimlich einen Scheiterhaufen, lege darauf die Waffen des ungetreuen Mannes, die er in seinem Gemache zurückgelassen hat, seine Gewande, die Betten seines Lagers. Alle Überbleibsel des Schändlichen möchte ich vertilgen, und überdem ordnet es die Priesterin so an.«
Dido sprach und verstummte, indem Totenblässe sich über ihr Antlitz verbreitete. Ihre Schwester Anna mutmaßte indessen nicht, daß sich hinter diesem seltsamen und neuen Opfergebrauch ein Gedanke des Selbstmords verstecke; sie ahnte nicht, von welcher Raserei das Gemüt ihrer Schwester ergriffen sei; auch befürchtete sie nichts Schlimmeres als beim Tode des ersten Gemahls ihrer Schwester, des Tyriers Sychäus, und ging, sich ihres Auftrags zu entledigen.
Sobald aber der Holzstoß sich in die Luft erhob, aus Kien und Eichenholz aufgeschichtet, erschien die Königin selbst, bekränzte ihn mit Zypressenzweigen und zog Blumenketten rings um ihn her. Dann legte sie Schwert, Gewande und Bildnis des Äneas darauf; und ringsum standen Altäre aufgerichtet. Die fremde Seherin mit fliegendem Haare rief alle Götter der Unterwelt an und goß einen eigenen Höllentrank auf den brennenden Scheiterhaufen aus; Kräuter, die mit Sicheln im Mondenschein abgemäht worden waren, wurden daraufgeworfen und noch allerlei Beschwörungen vorgenommen. Dann kehrte die trauernde Königin zur letzten Nachtruhe auf Erden in ihren Palast zurück.
Äneas lag indessen, nachdem die Abfahrt beschlossen war, auf dem Hinterverdecke des Schiffes, dem Schlummer hingegeben. Da erschien ihm noch einmal der Gott Merkur im Traume und schien ihn zu ermahnen: »Sohn der Göttin, wie kannst du in so gefährlicher Lage schlummern? Siehest du nicht, wie viele Gefahren dich umringen? Hörst du die günstigen Westwinde nicht sausen? Betrug, gräßliche Frevel der Rachgier wälzt die verlassene Königin in ihrem Herzen! Wirst du nicht fliehen, solange du noch kannst?«
Erschrocken sprang der Held vom Lager auf und trieb die Genossen zur schleunigen Flucht an.
Die Morgenröte war inzwischen angebrochen, die Königin hatte den Söller bestiegen, sah den Strand leer und die Flotte mit schwellenden Segeln auf der hohen See. Schmerzvoll schlug sie mit der Hand an ihre Brust, raufte sich die blonden Locken aus, und nach langem Wehklagen rief sie ihre Amme Barce und befahl, ihre treue Schwester Anna herbeizurufen. Sobald sie sich allein sah, stürmte sie in den innern Hof der Burg und bestieg, vom Taumel des Wahnsinns getrieben, das hohe Gerüst, auf welchem das Schwert ihres treulosen Geliebten lag; dieses zog sie aus der Scheide, warf sich auf das Bett und die Kleider des Helden, die zuoberst ausgebreitet lagen, und sprach von dem hohen
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