Sagen des klassischen Altertums
durch Tröstungen zu ermutigen. »Lang zwar ist für uns beide jeder Verzug«, sprach er, »aber ich schwöre dir bei meinem strahlenden Vater: vergönnt mir das Schicksal die Heimfahrt, so kehre ich wieder, ehe der Mond sich zweimal erneuet hat.« Darauf ließ er alsbald das Schiff in die Flut ziehen und alles zur Reise rüsten. Beim Abschied konnte Halkyone ihren unsäglichen Schmerz nicht bergen. »Lebe wohl!« sprach sie nur und sank ohnmächtig am Ufer zusammen. Gern hätte der zärtliche Gatte noch gezögert, aber schon begannen die Jünglinge auf dem Schiffe die Ruder anzuziehen, daß das Meer schäumte. Da durfte er nicht länger weilen und eilte an Bord. Als Halkyone das nasse Auge erhob, sah sie den geliebten Mann auf dem Hinterteil des Schiffes stehen und ihr mit der Hand die letzten Grüße zuwinken. Sie erwiderte ihm auf gleiche Weise, und so folgte sie mit den Augen dem fliehenden Schiff, bis das weiße Segel ihrem Blick entschwand. Da kehrte sie wieder in ihr einsames Haus zurück, warf sich weinend auf das Lager und härmte sich um den entfernten Gatten.
Unterdessen fuhren jene immer weiter hinaus auf das hohe Meer; ein sanfter Wind begann zu wehen, die Ruder wurden beigelegt, und vom günstigen Lufthauch schwollen die Segel. Schon war die Hälfte der Fahrt zurückgelegt, gleich weit schwebte das Schiff von beiden Ufern, siehe, da schnob gegen Abend der schreckliche Euros von Süden daher und krönte die Wogen mit weißem Schaum; ein wütender Sturm erhob sich. »Schnell die Rahen herab«, schrie der Steuermann, »die Segel fest um die Stangen gewickelt!« Aber seine Worte verhallten ungehört im Geheul des Sturms und im Brausen der Wellen. Nun eilte ein jeder, zu tun, was ihn das beste dünkte: der eine zog die Ruder ein, andere verstopften die Ruderlöcher am Bord; hier wurden die Segel herabgerissen, dort ward die eingedrungene Flut wieder ins Meer geschöpft. Während dieser Verwirrung wuchs das Rasen der Winde, die das Meer bis zum Grunde aufwühlten. Verzagt stand der Lenker des Schiffes und bekannte, daß er nicht wisse, wie es stehe noch was er befehlen und verbieten solle.
Nun verhüllt schwarzes Gewölk den Äther, finstre Nacht sinkt herein, nur vom zuckenden Blitz durchleuchtet. Der Donner kracht Schlag auf Schlag, immer höher türmen sich die Wogen und überschütten das Schiff mit salziger Flut. Laut auf schreit das Schiffsvolk, die Balken drohen schon zu wanken, und jetzt springt eine riesige Welle hinein in den inneren Schiffsraum. Da faßt die meisten Verzweiflung, der eine weint, ein anderer staunt wie zu Stein erstarrt; der preist den glücklich, welcher auf dem Lande ein Grab findet; der fleht die Götter um Rettung an und streckt vergebens die Arme zum unsichtbaren Himmel empor; der denkt an die Lieben, die er daheim gelassen, an den alten Vater, die zärtliche Gattin, die blühenden Kinder; – Keyx denkt nur an Halkyone, nur ihr Name tönt wieder und wieder von seinen Lippen.
Wie auch sein Herz nach ihr sich sehnt, so freut er sich doch, daß sie jetzt fern ist. Ach, nach dem heimischen Ufer möchte er so gern sein Antlitz kehren, sterbend die Hände ausstrecken nach der Gegend, wo die Geliebte wohnt; aber im undurchdringlichen Dunkel der Nacht weiß er nicht, wohin er sich wenden soll.
Jetzt stürzt der geborstene Mastbaum herab und zerschlägt krachend auch das Steuer. Stolz auf ihre Beute hebt sich die Woge wie eine Siegerin, und auf den Grund des Meeres versenkt sie das Fahrzeug. Viele der 401
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
Schiffer werden mit in den Strudel hinabgerissen und kommen nicht lebend wieder empor. Keyx hielt ein armseliges Brett mit der Hand, in der einst das Zepter ruhte. »Halkyone!« rief er, wie die müden Arme ihm erlahmten, »Halkyone!« seufzte er, als die Wellen über sein Haupt zusammenschlugen; »Halkyone!«
murmelte zum letzten Mal der Mund des Ertrinkenden. Sein göttlicher Vater, der nicht vom Firmamente weichen durfte, verhüllte das Antlitz mit schwarzem Gewölk, um den geliebten Sohn nicht sterben zu sehen.
Unterdes zählte Halkyone, unkundig all des Jammers, die Tage und Nächte, die bis zur Heimkehr des trauten Gemahls noch verstreichen mußten; sie richtete schon die Gewänder, die er und die sie selbst tragen sollte; auch vergaß sie nicht, den Göttern, insbesondere der Hera, zu opfern, flehend, daß sie ihr den lieben Mann gesund wieder heimbringe. Hera sah es mit Trauern und sprach zu Iris, der Götterbotin:
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