Sagen des klassischen Altertums
»Eile an den Hof des Schlafgottes und heiß ihn der harrenden Halkyone einen Traum in Gestalt des toten Keyx senden, daß er ihr das wahre Schicksal verkünde!« Alsbald zog Iris das tausendfarbige Gewand an und eilte über den schimmernden Himmelsbogen hinab zu der Felsenbehausung des Gottes. Fern am westlichen Rande der Erdscheibe liegt ein Berg mit einer tiefen und weiten Grotte; dort herrscht der Schlafgott. Niemals dringen dahin die Strahlen des Helios, ein dunkler Nebel steigt aus dem Boden empor und hüllt alles in Dämmerung.
Kein Laut, weder Hundesgebell noch menschliche Rede stört die ewige Stille. Nur ein sanfter Bach fließt mit einschläferndem Murmeln um den Eingang der Höhle; an seinen Ufern sprießen unzählige duftende Kräuter, aus denen die Nacht betäubenden Saft sammelt. Keine knarrende Tür ist in der Behausung, offen steht der Eingang. Tief im innersten Gemach steht ein Lager aus Ebenholz, mit schwellenden Kissen bedeckt; darauf ruht der Gott, die Glieder von süßer Ermattung gelöst, und rings um ihn liegen in tausend Gestalten die Träume, die Söhne des Gottes.
Wie nun Iris die Grotte betrat, erhellte der Glanz ihres Gewandes sogleich das ganze Haus. Der Schlafgott erhob matt die Augen, sank wieder und wieder zurück, nickte wie trunken mit dem Haupte, schüttelte sich aus sich selbst hervor und stützte sich auf den Arm. »Was bringst du für Botschaft, schimmernde Iris?« fragte er endlich. Schnell vollendete die Götterbotin ihren Auftrag und enteilte sogleich wieder zum Olymp, denn sie konnte den betäubenden Duft nicht länger ertragen, der die ganze Höhle durchdrang. Aber der Schlaf wählte aus der Schar seiner tausend Kinder den Morpheus, daß er den göttlichen Befehl ausführe; denn dieser war vor allen geschickt, Gang und Stimme, Gestalt und Antlitz der Menschen nachzuahmen. Der Alte sank zurück und barg wieder das Haupt im weichen Polster; Morpheus aber flog mit geräuschlosen Fittichen durch die Nacht und neigte sich über das Lager der schlummernden Halkyone. In des Ertrunkenen Gestalt, totenbleich, nackt, mit triefendem Bart und Haupthaar, die Wangen mit Tränen überströmend, sprach er also: »Kennst du deinen Keyx noch, armes Weib, oder hat der Tod mir die Mienen verwandelt? Du kennst mich! Ach, ich bin nicht Keyx, nein, nur sein Schatten. Ich bin tot, Geliebte. Im Ägäischen Meer, wo der Sturm unser Fahrzeug zerschellte, schwimmt meine Leiche. Darum lege Trauerkleider an und weihe mir Tränen, daß ich nicht unbeweint in die traurige Unterwelt wandeln muß.« Zitternd streckte die Schlafende die Arme aus, ihr eigenes Schluchzen weckte sie. »O bleibe! Wo eilst du hin?« rief sie dem schwindenden Traumbild nach. »Laß mich mit dir gehen!« Als sie nun allmählich zum vollen Bewußtsein kam, schlug sie das Haupt mit den Händen, zerraufte sich das goldene Lockenhaar, zerriß ihr Gewand und schrie laut auf vor unendlichem Jammer.
So nahte der Morgen. Da ging sie hinaus an das Meeresgestade, den Ort zu besuchen, wo sie einst dem Geliebten die letzten Grüße nachgesandt hatte. Wie sie so mit tränenden Augen in die blaue Ferne blickte, da erschien plötzlich weit vom Strande in den Wellen etwas wie ein menschlicher Körper. Immer näher trugen es die Wogen heran, und je näher es kam, je mehr und mehr schwanden ihr die Gedanken. Jetzt, jetzt schwamm es ganz nahe ans Land. »Er ist's!« schreit die Unglückliche, die Hände nach dem Leichnam des teuren Gatten ausstreckend: »So also kehrst du mir zurück, du Armer! Wohlan, empfange mich denn, ich komme zu dir!« In die Flut will sie sich stürzen, aber siehe, Flügel heben sie durch die Luft, wehmütig klagend flattert sie als Vogel dicht über die Gewässer hin und schwingt sich schluchzend an die Brust des toten Gemahls. Und ist es nicht, als ob er die Nähe des trauten Weibes fühlte? Ja, wahrlich, die mitleidigen Götter verwandeln auch seine Gestalt und leihen ihm neues Leben. Als Eisvögel halten die beiden Gatten noch immer treu die alte zärtliche Liebe, in nie getrenntem Ehebund leben sie fort. Mitten zur Winterszeit kehren alljährlich sieben ruhige, windstille Tage wieder, dann sitzt Halkyone brütend im schwimmenden Nest auf dem glatten Spiegel des Meeres; denn ihr Vater Äolos hält zu dieser Zeit die Winde daheim im Hause und schafft seinen Enkeln schützende Ruhe.
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Nachwort
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Gustav Schwab
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