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 Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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ihn findest, dann töte ihn, und dann komm wieder heraus.« – Und dachte sich: Wenn du wieder herausfindest. Und dachte sich: Wenn er nicht wieder herausfindet, um so besser, dann kassiere ich Athen gleich mit. Er rieb sich die Hände, weil er genau wußte: Der beste Ingenieur hatte dieses Labyrinth gebaut, aus diesem Labyrinth konnte niemand herausfinden.
    Aber Theseus traf in der Tochter des Minos eine Verbündete. Ariadne gab ihm ein großes Wollknäuel. Er befestigte das eine Ende am Eingang des Labyrinths und rollte, während er hineinging, den Faden vom Knäuel ab, so daß er wieder zurückfand, indem er einfach dem Faden folgte. Das ist der berühmte Ariadnefaden. Noch heute ist dieser Faden sprichwörtlich, wenn man sagt: Du hast dich in eine Sache hineinbegeben, aus der du nicht mehr herausfindest. Du hast vergessen, einen Ariadnefaden mitzunehmen.
    Und nun wiederum die Frage: Wer hat Ariadne auf die Idee mit dem Faden gebracht? Klar, es war Daidalos.
    Daidalos hat als Vorbild durch die ganze Antike gewirkt. Zum Beispiel hat der Philosoph Sokrates von sich aus, teils ironisch und augenzwinkernd, teils aber durchaus ernsthaft, behauptet, er sei ein direkter Nachfahre dieses Daidalos.
    Daidalos heißt soviel wie der Einfallsreiche. Er war eigentlich Bürger von Athen. Daß er sich zu jener Zeit in Kreta aufhielt, hat eine ganz besondere Geschichte als Grund, und die möchte ich hier kurz erzählen:
    Daidalos war der berühmteste Erfinder, aber auch der berühmteste Bildhauer und auch der berühmteste Maler von Athen. Man sagte von ihm, er habe seine Bilder so naturgetreu gemalt und seine Statuen so naturgetreu aus dem Stein gehauen, daß, wenn diese Kunstwerke in Menge auf dem Marktplatz standen, sich die Bevölkerung einbilden konnte, sie sei um ein Vielfaches gewachsen, und es soll Politiker gegeben haben, die sich diese Illusion zunutze machen wollten und den Daidalos baten, er möge großes Volk auf den Platz stellen, wenn sie ihre Kundgebungen abhielten. – Daidalos pflegte, wie gesagt, alles zu tun, was von ihm verlangt wurde. Probleme waren da, um gelöst zu werden …
    Daidalos hatte einen Neffen, der hieß Perdix, er war der Sohn seiner Schwester, und diesen Neffen führte er in die Kunst des Erfindens, in die Ingenieurskunst, die Bildhauerei, die Malerei ein. Dieser Perdix war äußerst geschickt. Er hätte das Zeug gehabt, ein noch größerer, noch bedeutenderer Erfinder zu werden als sein Onkel. Er hat unter anderem die Säge erfunden, da war er noch ein Knabe. Er ging am Strand spazieren und sah einen von Vögeln zusammengefressenen Fisch, sah die bloßen Gräten und dachte sich: »Wenn die Gräten aus Metall wären, könnte man damit Holz durchschneiden.«
    Er hat auch den Zirkel erfunden. Man stelle sich vor, den Zirkel! Ohne Zirkel, dieses genial einfache Gerät, ist angewandte Geometrie gar nicht denkbar! Zuletzt hat er auch noch die Töpferscheibe erfunden.
    Also ganz grundlegende Erfindungen waren es, die Perdix, der Neffe des Daidalos, der Menschheit geschenkt hat. Wir können uns denken, wie Daidalos darauf reagierte. Vielleicht war er am Anfang stolz, daß sein Neffe so fix und zügig lernte. Aber ich würde sagen, spätestens nach Zirkel und Töpferscheibe war es mit dem Stolz vorbei, und der Neid stieg in ihm hoch. Er lockte den Knaben ans Meer, weil er ihm angeblich etwas zeigen wollte. Er wolle ihn, sagte er, einführen in die Berechnung der Entfernung. Die Griechen wußten ja, daß die Erde eine Kugel war. Er wolle ihm, sagte er, eine Aufgabe stellen.
    »Was denkst du, wo ist zwischen dir, der du hier an der Klippe stehst, und dem Horizont draußen im Meer die Mitte?«
    Perdix wußte es sofort, er sagte: »Da die Erde gekrümmt und der Blickstrahl eine Tangente ist, die sich der Krümmung der Erde angleicht, wird sich diese lange Strecke, wenn wir die perspektivische Verkürzung berücksichtigen, für das Auge so zusammenstauchen, daß ihre Halbierungslinie ungefähr mit der Horizontlinie zusammenfällt.«
    Da hat es den Daidalos fast umgehauen, so entsetzt war er über die Klugheit und das Wissen, über die unbestreitbare Genialität seines Neffen, und er gab ihm einen Stoß, und Perdix fiel über die Klippe.
    Aber dieser Perdix hatte eine Förderin im Himmel, nämlich die Göttin Pallas Athene höchstpersönlich. Athene hatte es immer mit den ganz Schlauen, mit den ganz Gescheiten, sie fing den Knaben auf, verwandelte ihn noch in der Luft in ein Rebhuhn, und so überlebte Perdix

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