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 Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Welt. Zunächst traf er wieder auf diese Herde Kühe, von denen er bereits eine geschlachtet hatte. Die Kühe gefielen ihm, und er trieb sie vor sich her, er stahl sie. Er wußte allerdings nicht, daß diese Kühe seinem Halbbruder Apoll gehörten.
    Er trieb die Kühe vor sich her, dann überlegte er: »Es könnte ja sein, daß mir einer folgt.«
    Also packte er alle fünfzig Kühe am Schwanz – wie er das angestellt hat, wissen wir nicht, Hermes ist ein Gott. Er band sich Zweige an die Füße, um seine Spuren zu verwischen. Mit einer Hand packte er sie alle fünfzig am Schwanz, diese Kühe, zog sie rückwärts davon, damit jemand, der Spuren lesen konnte, meinen sollte, sie seien in die andere Richtung gegangen. Mit der freien Hand zupfte er seine Lyra. So zog er diese Kühe quer durch ganz Griechenland.
    Jetzt dürfte es so gegen vierzehn Uhr gewesen sein, nach unserer Zeitrechnung. Da war er es leid, und er schaute diese Tiere an, die wiederum ihn anschauten, wiederkäuend, wahrscheinlich auch zornig, weil er sie so mißhandelt hatte. Er wollte sie kurzerhand umbringen.
    Da kam zufällig ein Hirte des Weges, Bathos hieß dieser Hirte, das ist verbürgt, und der staunte darüber, daß ein kleines Baby fünfzig Kühe an den Schwänzen hielt.
    Hermes sagte zu dem Bathos: »Du, du hast mich gesehen.«
    »Ja«, sagte Bathos, »ich hab’ dich gesehen.«
    Sagt Hermes: »Du, du wirst aber niemandem verraten, daß du mich gesehen hast.«
    Und Bathos sagte: »Nein, ich werde niemandem verraten, daß ich dich gesehen habe.«
    »Na gut«, sagte Hermes, »das mußt du mir aber versprechen.«
    »Ja«, sagte Bathos, »das will ich dir versprechen.«
    »Du sollst es mir aber schwören«, sagte Hermes.
    »Das schwöre ich dir«, sagte Bathos.
    »Bei was willst du es mir schwören?«
    Bathos beging einen großen Fehler. Wir sagten es bereits: Man soll sich mit Göttern nicht einlassen. Und er mußte ja gesehen haben, daß er es hier mit einem Gott zu tun hatte. Er sagte: »Wenn ich irgend etwas verrate, dann soll ich zu Stein werden.«
    Na gut, da war Hermes froh und zog die geklauten Kühe weiter und dachte: »Ich werde sie irgendwoanders schlachten.«
    Aber dann wurde er mißtrauisch. Er band die Kühe zusammen und schlich zurück und sah, daß Bathos mit jemandem sprach, und er sah, das war der Gott Apoll. Denn ein Gott erkennt sofort einen anderen Gott, auch wenn er ihn noch niemals vorher gesehen hat. Apoll war den Spuren seiner Herde gefolgt, er hatte sich von den verkehrten Abdrücken der Hufe nicht bluffen lassen, und er war auf Bathos getroffen.
    Apoll hatte gesagt: »Bathos, ich bin der Gott Apoll, du wirst mir die Wahrheit sagen.«
    Bathos rückte damit heraus.
    »Aha«, dachte Hermes, der alles sah und hörte. »Aha! Dieser Bathos, der wird sein blaues Wunder erleben!«
    Als Apoll weg war, verkleidete sich Hermes. – Wir dürfen nicht vergessen, daß er ein Baby ist. – Er trat zu Bathos hin und sagte: »Sag mal, Bathos, kennst du mich?«
    »Nein«, sagte Bathos.
    »Sag mal, Bathos, wirst du mir nicht sagen, ob du jemanden mit Kühen gesehen hast?«
    »Ich habe niemanden mit Kühen gesehen«, sagte Bathos.
    »Ja, aber«, sagte Hermes, »ich würde dir doch die Hälfte dieser Kühe geben, wenn du mir etwas sagen willst.«
    Da war Bathos dann doch ziemlich gierig auf dieses Vieh, und er sagte: »Ja, ich erinnere mich, ich habe da tatsächlich jemanden gesehen mit Kühen.«
    Da gab sich Hermes zu erkennen und sagte: »So, Bathos, du hast selbst gesagt, du möchtest ein Stein werden, wenn du mich verrätst.«
    Und Bathos war ein Stein. – Diesen Stein kann man noch heute in Griechenland sehen. Es ist ein gekrümmter Stein, der aussieht, als ob dort jemand kauern würde.
    Dann machte sich Hermes daran, die fünfzig Tiere zu schlachten. Ich schätze, wir sind jetzt so gegen sechzehn Uhr. Er schlachtete alle fünfzig Tiere, verbrannte ihre Hörner, verbrannte ihre Hufe und opferte das leckere Fleisch den Göttern.
    Dann kroch er wieder in seine Höhle zurück. Legte sich scheinheilig in seine Windeln. Apoll kam, denn er ahnte, daß hinter dem Diebstahl seiner Herde ein Gott stecken mußte – ein neuer Gott, der über die Gepflogenheiten der Götter untereinander noch nicht Bescheid wußte.
    Apoll stellte sich vor die Wiege und sagte: »Hermes, du hast mir die Kühe gestohlen.«
    Hermes sagte: »Kühe? Was ist Kühe?«
    Apoll sagte: »Kühe ist die Mehrzahl von Kuh.«
    »Ich weiß nicht, was Kuh bedeutet«, sagte

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