Sagen des klassischen Altertums
sagte: »Er soll einmal meine ganze Macht, meinen ganzen Reichtum und all mein Können und Wissen erben.«
Zagreus ist der Gottessohn.
Auf diesen Zagreus war Hera besonders eifersüchtig. Deshalb versteckte ihn Zeus in einer Höhle, ließ ihn bewachen, und zwar von jenen Göttern, von denen auch er als Kind bewacht worden war, nämlich von den Kureten, die so laut auf ihre Schilde trommeln konnten, daß man das Schreien des Kindes nicht hörte.
Aber Hera haßte diesen Zagreus so sehr, wie ihr Gatte ihn liebte, und sie rief die Titanen, die in dieser Sage das Böse schlechthin verkörpern.
Sie befahl ihnen: »Findet mir den Zagreus, tötet ihn!«
Die Titanen suchten den Zagreus auf der ganzen Welt, und sie fanden ihn in der Höhle, von den Kureten bewacht. Ein liebenswürdiges, ganz naives Kind. Die Kureten sind schnell vertrieben, aber Zagreus verkriecht sich in der Höhle, und die Höhle ist zu klein für die Titanen. Sie versuchen, ihn herauszulocken. Sie versprechen ihm allerlei – Äpfel, die, wenn er sie unter seinem Hemd trägt, ihn aussehen lassen wie eine Frau. Sie versprechen ihm, daß er die Sprache der Tiere verstehen, daß er auf den Wolken liege könne. Aber all das lockt ihn nicht heraus.
Da schieben sie ihm einen Spiegel in die Höhle. Das ist nun etwas Interessantes. Zagreus kommt heraus, weil in der Höhle zuwenig Licht ist, er blickt in den Spiegel, und er sieht sein eigenes Bild. Er beginnt über sich nachzudenken. Dem Menschen ist ja nichts so interessant wie er selbst. Er ist so fasziniert von sich selbst, daß er vergißt, vorsichtig zu sein. Da stürzen sich die Titanen auf ihn. Zagreus kann sich gerade noch in einen Löwen verwan deln. Aber das hilft ihm nichts mehr. Er verwandelt sich in einen Stier. Es nützt ihm nichts. Die Titanen zerreißen ihn, zerfetzen seinen Körper und fressen die Teile auf.
Zeus erfährt davon. Er ist zutiefst betrübt, und er ist auch gekränkt. Der Schmerz erfüllt ihn ganz. Er schleudert seine Blitzpfeile auf die Titanen und läßt sie zu Asche verbrennen.
In dieser Asche vereinigen sich zwei Prinzipien, sind zwei Lebensentwürfe zusammengebrannt: das Gute schlechthin, Zagreus, die Liebe, der Glanz, die Schönheit – und das Böse schlechthin, die Titanen, das Grauenhafte, das Häßliche.
Diese Asche lag nun da. Es regnete darauf, und sie wurde zu einem knetbaren Brei. Da kam Prometheus, der Titan, ein Halbbruder von Zeus, und formte aus ihr den Menschen. Hierin liegt die Antwort auf die Frage, warum in uns Menschen Gutes und Böses gleichzeitig enthalten sind. Nämlich weil wir aus der Asche der Titanen und des Zagreus geformt sind.
Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst
Und übe, dem Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn;
Mußt mir meine Erde
Doch lassen stehn
Und meine Hütte, die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.
Wer kennt nicht diese Verse von Goethe?
Prometheus ist das Urbild des Rebellen.
Am Schluß des Gedichtes heißt es:
Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!
Das ist Prometheus.
Prometheus hat den Menschen gemacht. Er war stets der Vorkämpfer des Menschen. So steht es bei Hesiod in der Theogonie, und so erfahren wir es auch aus den Dramen des Aischylos. Prometheus ist eine Erlöserfigur.
Er hat uns Menschen gemacht, und das ausdrücklich gegen den Willen des Zeus. Das hat Zeus nicht gerne gesehen. Er wollte den Menschen aushungern, indem er von ihm Opfer forderte. Zeus dachte sich: »Wenn ich fordere« – eine Seinssteuer ist das gewissermaßen –, »wenn ich das Fleisch der Schlachttiere, das Beste und Nahrhafteste also, von ihnen fordere, dann werden sie nicht überleben können, dann werden sie für den Daseinskampf zu schwach sein.«
Prometheus half uns. Er betrog den Gott. Er häufte die Innereien und die Knochen der Schlachttiere aufeinander und deckte sie mit Fett zu. Dann nahm er den Magen, und in den häßlichen, unappetitlich aussehenden Magen füllte er die besten Teile, nämlich das rote Muskelfleisch.
Er sagte zu Zeus: »Gut, meine Menschen werden dir opfern. Bitte, wähle aus: Welchen Haufen möchtest du haben?«
Zeus dachte: »Was können sie schon mit dem unappetitlichen, häßlichen Magen anfangen! Wenn ich ihnen das schöne Fett nehme, dann werden sie zugrunde gehen.«
Und er
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