Sagen des klassischen Altertums
Urne hier seine Asche.«
Darüber war Klytaimnestra sehr traurig, aber auch froh, denn sie hatte gefürchtet, daß ihr Sohn sich würde rächen wollen. Sie lud diesen jungen Mann, der ihr die Botschaft gebracht hatte, ein, eine Weile am Hof zu bleiben. Er war ihr sympathisch.
Orest sagte, er würde gerne auch den Aigisthos ken nenlernen, er habe so viel von ihm gehört, überall sei man voll des Lobes über ihn, er sei dem Reich in der schwersten Stunde beigestanden, heiße es überall – sagte er. Er sei gerade dabei, aus den Eingeweiden eines Tieres seine und ihre Zukunft zu lesen, sagte Klytaimnestra. Ob er da nicht zuschauen dürfe, fragte Orest, das interessiere ihn.
»Gern«, sagte Klytaimnestra.
Sie begaben sich in die Opferkammer, wo Aigisthos gerade über das Opfertier gebeugt war. Da riß ihm Orest das breite Opfermesser aus der Hand und schlug damit dem Aigisthos den Kopf ab. Der Kopf fiel in die Eingeweide des Tieres und versank im Blut.
Klytaimnestra erkannte, daß dies ihr Sohn Orest war. Schreiend fiel sie vor ihm auf die Knie, flehte, er möge sie, seine eigene Mutter, verschonen. Öffnete ihr Gewand und zeigte ihm ihre Brüste. »Daraus hast du getrunken«, schrie sie.
Aber ohne jedes Mitleid, mit einem Schlag seines Schwertes, enthauptete Orest seine Mutter. Damit hatte er vollbracht, was das Orakel in Delphi von ihm gefordert hatte.
Aber die Erinnyen, jene Rachegeister, die aus den Blutstropfen des Uranos entstanden sind, die grausamen, unbarmherzigen Erinnyen werden Orest verfolgen. Sie lassen es nicht zu, daß der Sohn ungestraft die Mutter tötet. Sie hetzen ihn durch die ganze Welt.
Orest wird wahnsinnig. Er wird verrückt, er beißt sich in seiner Verzweiflung einen Finger ab. Schließlich liefern ihn die Erinnyen an ein weltlich-göttliches Gericht aus, nämlich an den Areopag in Athen.
Diesem Gericht steht Pallas Athene vor. Apoll übernimmt die Verteidigung des Orest. Sein Orakel in Delphi hat ihm ja geraten, die Blutrache weiterzutreiben. Die Erinnyen vertreten die Anklage. Als Schöffen sind die Bürger von Athen bestellt.
Jeder trägt seine Sache vor. Orest sagt: »Apoll und sein Orakel haben mich geheißen, meine Mutter zu töten.«
Die Erinnyen argumentieren: »Niemand darf den Leib töten, aus dem er selbst gekommen ist.«
Am Schluß stimmen die Bürger von Athen ab, und siehe da, es besteht Stimmengleichheit. Es gibt kein eindeutiges Urteil gegen und für den Orest.
Da geschieht etwas Merkwürdiges: Pallas Athene, die Göttin – sie ist ja eine Frau, eine weibliche Gottheit – Athene steigt von ihrem Vorsitz herunter und stellt sich zu jenen Schöffen, die für Orest gestimmt haben.
Und zwar tut sie das mit der Begründung: »Väter haben gegenüber den Müttern den Vorrang.«
Genauso drückt sie es aus. Damit ist das Matriarchat zu Ende.
Ursprünglich gab es nur weibliche Gottheiten. Die männlichen Gottheiten sind alle später entstanden, sie kamen erst dazu. Mit ihrem Spruch über das Schicksal des Orest hat Athene das Matriarchat verabschiedet.
Krieg um Troja
Von der Nymphe Thetis und ihren Liebhabern – Von einer gestörten Hochzeit – Von einem goldenen Apfel –
Vom Urteil des Paris – Von einer anderen Hochzeit – Von Helena und Menelaos – Vom Raub der schönsten
Frau der Welt – Vom Krieg im allgemeinen – Von der
Kunst, sich zu drücken – Vom Krieg im besonderen
Der Trojanische Krieg war für die Antike der Inbegriff des Krieges – vielleicht ist er der Inbegriff des Krieges im Abendland. Wenn wir uns anschauen, wie viele Dichter allein in unserem Jahrhundert den Trojanischen Krieg als Quelle ihrer Inspiration genutzt haben – angefangen bei Bert Brecht über Friedrich Dürrenmatt, Jean Giraudoux, Jean Anouilh oder in Amerika Eugene O’Neill.
Im Gegensatz zu anderen Mythen ist der reale Hintergrund des Trojanischen Krieges noch sehr deutlich sichtbar. Troja hat es gegeben, sogar mehrere Trojas hat es gegeben, die übereinander gebaut worden sind, man spricht von den verschiedenen Schichten. Aber auch das legendäre Troja, vor dessen Toren dieser Krieg stattgefunden hat, war real. Es war dies der erste Krieg zwischen Europa und Asien. Troja liegt in Kleinasien, in der heutigen Türkei. Es war eine Tochterstadt Griechenlands, also eine Kolonie. Es werden machtpolitische Gründe gewesen sein, die zu diesem Krieg geführt haben, und dann hat sich die Mythe das Geschehen anverwandelt, hat die Geschichte aus dem Aktuellen ins
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