Sagen des klassischen Altertums
bestimmte? Man weiß es nicht. Der göttliche Ratschluß wird vor uns Menschen nicht gerechtfertigt. Jedenfalls, Paris, der nichts lieber tat, als seine Rinder zu hüten, sitzt da eines Tages am Wegesrand, hat einen Grashalm im Mund, und plötzlich, wie aus der Erde geschossen, stehen die drei Göttinnen vor ihm und sagen: »Du sollst entscheiden, wer von uns die Schönste ist.«
Hera verspricht ihm Macht, Athene Weisheit und militärische Stärke. Interessant, interessant. – Aphrodite aber verspricht ihm die schönste Frau der Welt.
Paris gab den goldenen Apfel der Aphrodite. – Er kann einem leid tun, denn es war ihm schon klar: Ganz egal, wen ich auch wählen werde, ich werde eine Freundin, aber zwei Feindinnen haben.
Aphrodite fädelte nun alles ein. Paris fuhr über das Meer zu Menelaos, dem König von Sparta, dem Gatten der Helena. Er raubte Helena – denn sie war die schönste Frau der Welt – und fuhr mit ihr zurück nach Troja.
Der Raub der Helena war der Anlaß für den Trojanischen Krieg.
Warum aber haben sich sämtliche Fürsten Griechenlands zusammengefunden, um diesem zwar ungeheuer reichen, aber eher schwächlichen König Menelaos zu helfen, seine Frau zurückzuerobern? Die Geschichte der griechischen Fürsten läßt sonst nicht darauf schließen, daß sie zusammengehalten hätten. Ganz im Gegenteil: Was dem einen zustieß, hat den anderen nicht interessiert oder gar gefreut. Diesmal standen sie alle zusammen, kamen aus allen Enden Griechenlands, um dem Menelaos zu helfen. Warum?
Ich muß wieder weiter hinten anfangen. Und wo fängt es an: Wieder beim Göttervater Zeus.
Leda, eine Königin, bekam eines Tages Besuch von Zeus. Aber weil Zeus ihr nicht in seiner Herrlichkeit erscheinen wollte, hatte er sich in einen Schwan verwandelt. Als Schwan stieg er über die Leda und befruchtete sie. Leda gebar ein Ei, und aus diesem Ei schälte sich ein wunderschönes weißhäutiges Mädchen. Es war jedem klar, dieses Kind wird die schönste Frau des ganzen Erdkreises werden. Es war Helena.
Helena wuchs bei Leda, ihrer Mutter, und Tyndareos ihrem Ziehvater, auf. Ihr Ruf war ein sagenhafter. Sie war bekannt als die schönste Frau, die je gelebt hat, und man sagte, es werde nie eine schöner sein. Und nun wurde sie zur Vermählung freigegeben.
Aus allen Ecken und Enden Griechenlands kamen die Helden, die Tapferen, die Schönen, die Klugen, die Reichen, die Mächtigen, um sich um die Hand der schönen Helena zu bewerben. Da war Agamemnon, der führte allerdings nicht seine eigenen Geschäfte, der führte die Geschäfte seines Bruders Menelaos, weil sich Menelaos nicht traute. Es kam der telamonische Ajas, der lokrische Ajas, Idomeneus kam, und Diomedes kam, es kam aber auch Odysseus. Dem Tyndareos wurde langsam angst und bange. Denn er wußte: Gleich, wem er Helena zur Frau geben wird, er wird alle anderen zu Feinden haben. Er dachte: »Sobald ich das Urteil gesprochen habe, werden diese Haudegen übereinander herfallen und sich die Köpfe blutig schlagen, und mich werden sie als ersten hinmachen.« – Das wollte er natürlich verhindern.
Odysseus war der ärmste der Anwärter, er hatte nichts mitgebracht, er war auch gar nicht so scharf auf die Helena. Er war vielmehr interessiert an Penelope, ihrer Cousine.
Odysseus trat vor Tyndareos hin und sagte: »Paß auf! Wenn ich verhindern kann, daß es Streit gibt, sorgst du dann dafür, daß ich die Penelope bekomme?«
»Oh, gern! Selbstverständlich!« rief Tyndareos.
»Gut«, sagte Odysseus, »dann machen wir doch folgendes: Laß ein Pferd schlachten, breite das Fleisch auf dem Boden aus. Alle Helden sollen auf das Fleisch steigen und schwören, daß sie, wer auch immer Helena zur Gattin bekommt, demselben beistehen, sollte jemand versuchen, sie ihm abspenstig zu machen.« – Ein etwas komplizierter Schwur, zugegeben. Aber Odysseus erklärte es den Männern, und sie begriffen und waren alle einverstanden.
Erleichtert gab Tyndareos seine Ziehtochter Helena an Agamemnon, damit dieser sie für seinen Bruder Menelaos nach Hause führe. Menelaos war der Reichste von allen. Die anderen zogen, vielleicht zähneknirschend, ab. Ein Schwur war ein Schwur. Sie dachten: »Wer wird sich schon an die Frau von Menelaos heranmachen wollen, Menelaos steht ja unter dem Schutz seines mächtigen Bruders Agamemnon.«
Aber dann kam dieser Paris, der Prinz aus der kleinasiatischen Kolonie, und er raubte Helena. Und es fiel ihm nicht einmal schwer, denn Helena, von
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