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Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Fühmann
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zumindest einen Fall, da ihm das fremde Libroterr die Wesensstruktur der eigenen Gesellschaft so blitzhaft vors Auge und Erkennen gebracht, daß er überwältigt in sein Tagebuch eintrug: Wenn es ein Denkmal für Uniterr gäbe, so müßte es die Bergfabrik des Moritz Cornelius Asher sein.
    Die Eintragung Jirros in ihrem Konditional ist für einen Wissenschaftler, zumal einen diplomierten, schandbar ungenau: Uniterr hat ja für Uniterr wahrlich Denkmäler genug errichtet. — Jirro hätte etwa formulieren müssen: Wenn ein architektonisches oder plastisches Zeichen das Wesen einer Gesellschaft so auszudrücken vermöchte, daß es als deren Denkmal stehen könnte, dann jene Fabrik für Uniterr. — Geschenkt. — Sie wurde, die Fabrik des M. C. Asher, in Jirros Austauschzeit erbaut, und daß er ihr Werden vollständig erlebte, vom geheimnisumwitterten Beginn des Bauens bis zum schließlichen Produzieren, trug erheblich zu seiner Eintragung bei.
    Die Fabrik, ein Quader aus blendendem Weiß — auch darin, in Farbe wie Kompaktheit, mancher Grenzbefestigung Uniterrs entsprechend —, war, im Felshang eines Hochgebirges zwischen der Baum- und der Eisregion auf einer Platte reinen Siliziums lagernd, solchermaßen massig gefügt, daß es nur zwei Öffnungen zur Außenwelt gab: das Rohr, aus dem sich vom Gebirge reines Quellwasser als Rohstoff ergoß, und das Tor, das die Arbeiter ein- und ausließ, und da bedurfte es doch einiger Einbildungskraft, auch diesen nicht sehr schwer passierbaren Durchgang als Gleichniszug eines Landes zu sehen, das zu betreten wie zu verlassen nur Auserkorenen möglich war. — Jirro nahm es, das Tor, als Durchgangsort der Generationen: Geburt und Tod; mag es denn so hingehn. — Sonst: glatte, fugenlos blendende Wände; keine Fenster, keine Pforten, kein Schornstein, kein Abfluß, und wiewohl es in ihren Tiefen toste, gab die Fabrik auch keine Geräusche ab. Sie lag wie das Schicksal über den Dächern: stumm, und ungeheuer dauernd, und niemand hätte sich vorstellen können, daß sie jünger als das Gebirge sei.
    Die Fabrik war einzig in ihrer Art: Sie produzierte recht eigentlich nichts, oder wenn etwas, dann eine neue Physik, oder besser: deren materielles Substrat; sie diente, wie Jirro es auszudrücken pflegte, der Erzeugung von Gesetzen in einem Bereich, worin sie von Natur aus gar nicht auftreten konnten. — Etwa wie wenn man Säugetiere den Gesetzen der Moose unterwerfen wollte und dazu eine neue Botanik entwickelt: man müßte dann auch neue Säugetiere erschaffen. — Nein; jede Analogie ist von Grund auf verfehlt: da ist eine Fabrik, und sie wird schon produzieren. — Ihr Schöpfer, Moritz Cornelius Asher, einziger Sohn des legendären M. C. Asher I., des Spielautomatenkönigs von Libroterr, war — fasziniert von der frühen Erkenntnis, daß die zauberhaften Zusammenpralle der bunten Stahl- und Elfenbeinkugeln in der väterlichen Flipperstadt sich als berechenbar erwiesen — von Kindheit an derart mechanikbesessen, daß er eher als Lesen und Schreiben die Gesetze von An- und Abprall beherrschte. Kein Spiel, das er nicht berechnen konnte, ja Rechnen ergötzte ihn mehr als Spielen, und er blieb seinem Kindheitsenthusiasmus auch treu, als er — nun schon M. C. II. genannt — auf Anraten des Flippermanagements wie der Schule mit zehn Jahren Physik studierte und, Besitzer eines Teilchenbeschleunigers, in die Mikrobezirke der Materie eindrang. Als er entdeckte, wie es dort zuging, war er entsetzt und dann empört, und sein Wille wurde wach, jene Welt zu verändern.
    Was ihn empörte, war die von den Physikern behauptete Unmöglichkeit exakter Berechnung von Ort und Impuls des einzelnen Teilchens und damit der Chance, seiner geliebten Mechanik auch im Mikrobezirk zu begegnen. Er war nicht gewillt, sich damit abzufinden. — Man verwies ihn auf ein Naturgesetz, das solche exakte Erkenntnis verwehrte, eine „Heisenbergsche Unschärferelation“; sie bestärkte nur seine Entschlossenheit, solche Liederlichkeiten nicht hinzunehmen. Wer gab denn Gesetze: der Mensch oder die Natur? Und wenn es bislang die Natur sein sollte: Mußte dies darum immer so bleiben? Oder mußte es überall so bleiben? Und gar im Wesensgrund aller Substanzen, im innersten Innern der Atome? Auch dort — so des M. C. II. Gewißheit, die sich nicht so sehr auf stringente Ableitungen als auf die Kraft unbeugsamen Wünschens stürzte —: auch im chaotischen Treiben der Elementarbausteine (als die man vorerst endgültig

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