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Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Fühmann
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Zeitraum von fast fünf Quartalen (in dem allein die Pharmaziemode siebenmal wechselte) die Spannung unvermindert anhielt: Man wußte auch am Einweihungstag vom Produkt des Werkes nichts außer dem, daß dank einer von der Fachwelt verlachten sogenannten Mikromechanik sich mit dem Rohstoff reinen Wassers eine unerhörte Wandlung begeben sollte; doch wie und in was, das blieb unausgeforscht. Zwar sprach M. C. II. immer wieder von seiner Neuordnung der Natur und der Selbstgewinnung der Elemente zur höchsten Daseinsform ihres Wesens, doch was das konkret hieß, erklärte er nicht. So wurden, von der Presse gestachelt, die Gerüchte immer ausschweifender; ein findiger Lotteriebetrieb sicherte sich das Wettbüromonopol für Prognosen über das Endfabrikat; eine Sekte der „Mikro-Mechanosophen“ entstand, um sogleich eine Opposition abzuspalten; in bestimmten Theologenkreisen verhöhnte man die Rückkehr des Volks zu längst überwundenem Köhlerglauben, in bestimmten Mathematikerkreisen sprach man vom kommenden Kanaan-Wunder.
    Jirro verstand diese Anspielungen nicht, und er scheute sich auch, danach zu fragen, er fürchtete eine neue Blöße. Kurz zuvor war nämlich seine Anregung, die Theorien des M. C. Asher mathematisch zu überprüfen und ein Modell seiner Mikromechanik von einem Computer simulieren zu lassen, um endlich über Wert oder Unwert dieses Projekts entscheiden zu können, mit einem Kopfschütteln bedauernden Mitleids bedacht worden: Ob denn ein Auftrag der Industrie dafür vorliege? Na also!
    Solche Belehrungen machten Jirro hilflos: Libroterr in seinen Widersprüchen, nicht zuletzt dem zwischen Monstrosität und Beschränktheit, wurde ihm immer unfaßlicher; er fand keine Regeln, sich zu orientieren, und wenn er dann noch da auf Ironie stieß, wo er Zustimmung erwartet hatte, und wieder einmal mehr erkannte, daß seine und seiner Kollegen Gedanken windschief liefen, ohne sich je zu treffen, sehnte er sich nach Uniterrs Einlinigkeit. Wie war doch dort alles so wohlgeordnet, so faßlich gelenkt, so berechenbar!
    Vollends unerklärlich war Jirro die Rolle der Industrie, die einerseits, von niemand gehindert, Wahnsinnsprojekten sich hingeben konnte, ja offenbar Wahnsinniger bedurfte (Libroterrs Zeitungen priesen M. C. II. als „rettenden Beleber der Konjunktur“, ja, die Gewerkschaftspresse schlug vor, ihm — worauf 872 auftragslose Bildhauer noch am selben Abend Entwürfe einreichten — bereits zu Lebzeiten ein Standbild zu errichten) und andrerseits Leistungen erzielte, die, verglichen mit Uniterrs Kümmerlichkeiten, ihn einfach überwältigten. Daß es, zum Beispiel, fliegende Hotels gab; und daß man sie in acht Stunden montierte; und daß man staunte, daß einer darüber staune. Jirro pflegte dann bitter zu werden; bisweilen schämte er sich seines Landes, und einmal, als er den Komfort der Zubringerbahn zur Bergfabrik entdeckte (er hatte zuerst nicht gewagt, sie zu benutzen, weil er ihre graduierbare Polsterung nur für leitende Beamte bestimmt hielt), tat er dies in solchem Maße, daß er einem seiner Kollegen ob eines Witzes über Uniterrs Straßen ins Gesicht schlug, was ihm die Anerkennung des neubestallten Attachés für Mikromechanik an der uniterranischen Botschaft einbrachte. —
„Heldenhafter Einsatz für unser geliebtes Vaterland!“
und:
„Ungeheuerliche Hetzaktion des Feindes gebührend widerlegt!“
und:
„Unsere Wissenschaftler in ihrer Bewährungsprobe!“
— so würdigte Uniterrs Zeitung diesen Ausfall und veröffentlichte zahlreiche Zuschriften von Lesern, die übereinstimmend ihren Stolz beteuerten, Bürger eines Landes zu sein, das Neutrinologen wie Jirro hervorgebracht hatte. Der Attaché für Mikromechanik verfaßte einen Bericht an seine Regierung, in dem er Jirros patriotischen Eifer seinem, des Attachés, erzieherischen Einfluß zuschrieb; er wurde zum Oberattaché ernannt. — Daß er bei jenem Vorfall erst drei Tage im Amt gewesen, war unerheblich; als Jirro dann davon erfuhr, entdeckte er sein Talent zum Zynismus.
    Zur festlichen Eröffnung der Bergfabrik (Eintrittskarten in Form von Kleinaktien wurden zu Wucherpreisen gehandelt) war der Oberattaché für Mikromechanik mit seinem zwölf Köpfe zahlenden Stab von M. C. Asher persönlich geladen; der Diplomat bestand auch auf Jirros Begleitung; und als, der Zubringerbahn entstiegen, die Bürgerschaft aus Uniterr das Werk unter dem Gletscher erblickte, auch am Einweihungstag ohne Fahne und Spruchband, ohne Girlanden,

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