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Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Fühmann
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offenbar lärmend, da alles Volk sich ihm zuwandte, indes zu der Zwergin, die auf einmal vor ihr stand, die Jeanne Viole tief sich beugte und ihr ein Stück Kandis in den Mund schob und beide, Auge über Auge, dabei ebenfalls, und nun auch mit Pavlo, gleich allem Volk zum Toul hin schauten —: da hob dieser Toul sich aus seiner Grube, und Spieß und Knüppel fallen lassend, riß er, dieser Toul, mit beiden Händen den Bausch seines groben Wamses auf und reckte, gewaltig den Rücken krümmend, sein roh und rot schwellendes Glied der königlichen Tribüne entgegen, vor der wohlabgemessen der Seegraf grüßte. Und ehe noch das jähe Verstummtsein der Zuschauer des anderen, des fortgeschrittenen Jahrtausends in irgendeine Bekundung von Schrecken ob solcher Ungeheuerlichkeit umschlagen konnte, erscholl mitten aus dem Surren heraus, als ob der König von Frankreich persönlich in der Macht seines Blaus und seines Wahns die Sprachlosigkeit der Geschichte durchbreche, ein Befehl zum Abschalten der Übertragung; und da war die Szene auch schon gelöscht; Finsternis und völlige Stille; verschollen das Hallen, erloschen das Flirren.
    Der Professor vom Dienst, sofort begreifend, daß auf ein Kommando des OK-Rates (er glaubte die Stimme des für Sicherungsfragen zuständigen Kameraden erkannt zu haben) die Sendung beendet worden war und er, jeder Peinlichkeit (und gewiß auch Pein) zuvorzukommen, sofort etwas zur Überbrückung tun mußte, begann, das volle Licht anknipsend, vor dem leeren Drahtgespinst auf dem Katheder das Geschaute synthetisch zu analysieren: Man sei, so erläuterte er, die Stimme zu einem der (selbstverständlich auch Schallwellen übertragenden) Emotiographen gewendet, man sei also Augenzeuge gewesen, daß Uniterrs Geschichtswissenschaft sich wieder einmal glänzend bestätigt habe, und da sagte laut eine Stimme: „Nein!“
    Der Professor fuhr herum.
    „Nein“, sagte Pavlo ein zweites Mal, und er stand auf, da er dies sagte.
    Dieweil das Auditorium nun den fremden Kommilitonen anstarrte, gleichsam als Fortsetzung des Spektakels, stand der Professor vom Dienst gelähmt wie einer, der einen Baum aus dem Boden steigen und auf seinen Wurzeln davongehen sieht. Er, der ob seiner Standfestig- wie Schlagfertigkeit in Diskussionen Berühmte (weswelcher Tugend ja gerade ihm der so ehrenvoll schwierige Wächterdienst am Tor zur Vergangenheit anvertraut worden), er fand sich von einem Wort so erschüttert wie die Lehre, die er repräsentierte. Dieses „Nein!“ zu etwas, zu dem es nur „Ja!“ gab, dies schlechterdings unvorstellbare „Nein!“ konnte, ja mußte Unvorstellbares bewirken; es war eine Provokation ohnegleichen, und dem Professor vom Dienst wurde übel vor ihr. Er fühlte seine Knie wanken; er sah Dunkles schwingen und hörte ein Dröhnen und griff ans Katheder, nicht hinzuschlagen, und griff dabei in den Zeitzeigekasten und spürte das Geflecht der Drähte und nahm noch wahr, daß sie ihn hielten, und das einzige, was er denken konnte, war, daß die Kameraden im OK-Rat ihn sähen und also in seiner Unfähigkeit sähen, ihrem hohen Vertrauen zu genügen, und das wird wohl so gewesen sein.
    Es ist uns nicht gegeben, Genaues zu wissen: vom Geschehen im OK-Rat dringt nichts nach außen. Doch wir wissen, was die Kontrolleure dachten, und die dachten, was nun auch der Professor in seiner verzweifelten Ohnmacht dachte, nämlich daß sofort etwas getan werden müsse. Das Sofort war unabweislich: Dieses „Nein!“ war nicht irgendein Einwand, es war das Konzentrat aller denkbaren (nein, eigentlich: undenkbaren) Einwände, und mehr als das: es war die Abweisung schlechthin, die Verneinung allen Bejahenswerten, das sich in einem Wort konzentrierte: „Ja!“ als ja zu Uniterr. Ein „Nein!“ nur für sich war so unmöglich wie etwa ein „Wie“ ohne Bezugsobjekt, es war nur als konkrete Verneinung möglich: „Nein zu Libroterrs unwissenschafflichen Irrlehren!“ — „Nein zu Libroterrs Geschichtspessimismus!“ — „Nein zum Ungeist des Neinsagertums!“
    Und nun dieses „Nein!“ in seinem nackten Anspruch, das Andre zu allem „Ja!“ zu sein. — Dem Professor erfror die Milz. Er hatte Einwände nie gefürchtet, Fragen zu einer bestimmten These, Zweifel an einem Sachverhalt, Hinweise auf vermeintliche Antinomien seines Vortrags: die ordneten, wußte man sie nur richtig zu nehmen, sich in ihrem Begrenztsein auf Einzelheiten letzten Endes dem „Ja!“ auch unter, indem sie ihr „Nein!“ ihm zur

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