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Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Fühmann
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Zwergin mit der nassen Zunge, und er sah nun von den beiden nichts mehr. Zwar schien da und dort ein meergrünes Schillern aus dem Knäuel auszubrechen, und Pavlo richtete dann gierig das Fernrohr dorthin: Warum hat der Mensch kein Facettenauge, warum erfand noch keiner ein Allblickgerät? Er schaute auf die Menge zwischen Tribüne und Grube, wie ein Jäger ein Kornfeld belauert, ob ein Zittern der Ähren das Wild verrate, das sich unsichtbar durch die Halme zwängt, und nun erst sah er, was die Kontrolleure vom ersten Augenblick an gesehen: daß die Menge Waffen trug, und gaffte, und lachte, und da dachte Pavlo, daß er träume und daß er die Dame erträumen könne, wenn er sie nur heftig genug begehre, und er drehte dabei an den Schrauben und Rädern, als könne er die Geschichte bewegen, und war doch unfähig, etwa jenen Wanst, der sich vor seinen Blick geschoben und dessen Massigkeit ihn verhöhnte, auch nur einen Zoll zur Seite zu tun. — Der Wanst trug einen violetten Kittel; er stand da, als ob er das Ärgernis schmecke, das seine Fülle dem fernen Betrachter bereite, und Pavlo, aus seinem Traum schon erwacht, begriff die Ohnmacht, Vergangenheit zu gewinnen. — In diesem Augenblick beschloß er, ohne es noch zu wissen, Erfinder zu werden und in die Zukunft zu schaun.
    Ein Mönch besprengte den Seegrafen mit geweihtem Wasser; die Menge schrie; man hörte es nicht. — Vor der Tribüne plötzlich Gedränge; ein Krug Wein oder Bier zerschellte am Boden; nun war auch der violette Wanst nicht mehr da; hinter den Miedern, die seine Lücke schlossen, das pralle Weiß eines zuckenden Felles; die Möwen stürzten in die Tiefe, und der Seegraf senkte das Schwert. Das Sinken des Stahls mit dem Leib nachvollziehend, schien er seinen Bastard zu grüßen. Pavlo, zum Zelter durchzudringen, schraubte das Rohr auf äußerste Schärfe, und da sah er zwischen zwei Weiberhüften die Zwergin hervorspähn; sie schaute, scharf ins Profil gedreht, aus schmalem, wässerigem Auge unter einer Stirn mit gerupften Brauen, wimpernlos, ein nacktes, nasses Auge, und Pavlo mußte jählings denken, daß hier die Geschichte selbst ihn anblicke, schamlos, offen, unergründlich, teilnahmslos tückisch im Fleisch des Alltags, und das Auge wandte sich voll ihm zu. Nur dies Auge, das schwimmende Loch der Pupille, ohne Wimpern in der Stirn ohne Brauen und Haare, und Pavlo, da die Hüften so zueinander sich drehten, daß er nur mehr das randlose Auge und dann nur noch die trübe Grundlosigkeit sah, begann, ins Oval der Leere gesogen, sein Grauen als solche Gier zu spüren, daß er nun auch die Dame vergaß. Es war, als ruhe in diesem Auge, das in nie geschauter Nacktheit ruhte, die Fülle jener Möglichkeiten, die man nicht wagen würde zu träumen, wiewohl man sie doch allnächtens träumt, voll Gier wie voll Grauen vor einer Erfüllung, die der Traum vollzieht und der Schlaf vergißt. Die Hüften schoben sich, Lila und Sämisch, zusammen und fugenlos übereinander, allein Pavlo — während ein Keil aus Scharlach schon längst den ziehenden Himmel hinaufglitt — ließ von seinem drängenden Blick nicht ab: Er glaubte die Mitte der Augentiefe noch in einem mohnkorngroßen Pünktchen zwischen den ärmelverhangenen Taillen zu schauen, reines Schwarz zum Abgrund aller Begierde, und erst, als der violette Wanst das Lila und das Sämisch wieder verdeckte, kehrte der Entrückte zurück zum Turnier, und nun sah er mit allem Volk zur Tribüne und sah neben dem Intendanten die Dame, vom Reigen der Huldigungen umwogt, und er sah erst jetzt, daß auch sie brauenlos war: gänzlich mit Glätte beschriebnes Gesicht. — Sie lächelte, und Pavlo suchte ihr Auge im Übermaß frevelhaften Vereinzelns: Es lag riesenhaft; wimpernlos auf dem Katheder, und plötzlich sah Pavlo darin den Tod, schwarz, gekrümmt, mit nacktem Schädel, ein grauenvoll träumender Embryo. Er schrak zusammen; schillerndes Meergrün, daraus die Spitze eines Schnabelschuhs lugte, Scharlach wie jener in den Himmel, und der Scharlach schlüpfte unter das Meer.
    Brokat und Silber ließen sich nieder, der Seegraf, sich der Tribüne nähernd, nahm mit einer Bewegung, die maßlos in den Raum griff, sein Barett ab, den fernen König zu ehren; die Trompeten flogen an die Münder, und in all ihrer Erwartung bestätigt, sahen die Wächter im Kontrollraum mit zustimmendem Nicken, wie die nun wieder andrängende Menge sich an den beinah graziös geführten Schranken der Hellebarden brach. Da hob — und

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