Sailer und Schatz 01 - Das ist mein Blut
sich wieder den von Römer mitgebrachten Fotos zu, konzentriert zwar, aber mit einem Ausdruck offensichtlicher Bewunderung. Gelegentlich machten sie einander auf das eine oder andere Detail aufmerksam, aber ihre Bemerkungen waren zu speziell als dass der Pfarrer sie ohne Fachwissen hätte verstehen können. Schließlich betrachteten sie beide die vergrößerte Inschrift. »Vielleicht haben Sie Glück«, erklärte Lina Winter nach einem längeren Schweigen. »Ich glaube, der Künstler hat seine Signatur auf dieser Arbeit hinterlassen. Fällt Ihnen nichts auf?«
Römer starrte die Gravur unverwandt an. »Das ist Mein Blut«. Mein Blut, vergossen zur Vergebung der Sünden. Es war nicht so leicht, diese Bedeutung mit der Tatsache zu verbinden, dass anderes mehr oder weniger unschuldiges Blut in eben diesen Kelch gegossen worden war. Der Kelch des Heils – aber nicht für Dietmar Kronauer. Römer zwang sich zur Aufmerksamkeit, und als ob der Gedanke an den Toten seinen Blick geschärft hätte, fiel ihm tatsächlich etwas auf. »Das ist Mein Blut« , wiederholte er langsam. »Meinen Sie, dass das M in dem Wort ›mein‹ großgeschrieben ist?«
»Mein Blut«, nickte die Goldschmiedin. »MB – ich nehme an, das sind seine Initialen.«
»Die beiden Buchstaben sind auch als einzige verziert«, bemerkte Herr Winter, der sich mit einer Lupe nochmals über das Bild gebeugt hatte. »Ich glaub, du hast Recht, Lina.«
»Ist das denn üblich?«, fragte der Pfarrer, der sein Glück nicht recht fassen konnte. Der Goldschmied nickte leicht. »Viele Arbeiten sind so markiert. Ich meine, es ist nicht wie die Signatur bei einem Bild, das nicht, aber gerade in der Innenseite eines Rings finden sich oft die Initialen des Künstlers.« Er versank einen Moment in nachdenkliches Schweigen, dann sah er wieder auf. »Herr Römer, das wird eine Weile dauern, bis ich etwas herausfinde – falls ich was herausfinden kann. Ich habe relativ viele Bücher und Bilder sowie Kopien historischer Dokumente, aber ich weiß noch nicht genau, wo ich anfangen soll. Ich vermute, dass dieser Kelch Anfang des letzten Jahrhunderts entstanden ist – vielleicht in den Zwanzigern oder Dreißigern, wenn der Künstler nicht bewusst den Stil jener Zeit nachgeahmt hat. Haben Sie ein bisschen Zeit? Dann setzen Sie sich doch in ein Café und warten. Ich sage Ihnen in etwa einer Stunde, ob Aussichten auf Erfolg bestehen.«
Herwig Römer strahlte. Das schien ihm der beste Vorschlag, den er seit langem gehört hatte. Mit einem Buch über »Das liturgische Gerät in Deutschland«, das ihm der Goldschmied in die Hand gedrückt hatte, ging er in die Gustavstraße. Als er dort vor einem der Cafés im Freien saß, fiel ihm wieder ein, dass er diesen gemütlichen Aspekt des Lebens in Fürth schon immer gemocht hatte.
18
»Frau … Frau Polizistin«, erklang eine zögernde Stimme von der Kirchentür her. Eva drehte sich um und erblickte Katharina Römer, die im Eingang stand und auf dem Ende ihres blonden Zopfes herumkaute. »Ja?«
Das Mädchen rührte sich nicht, und Eva bedeutete ihrem Kollegen, sich im Hintergrund zu halten, während sie selbst zur Pforte ging. »Was gibt es denn?«, fragte sie. »Ist dein Vater wiedergekommen?«
Katharina schüttelte den Kopf, dann flüsterte sie: »Der Andreas König muss mit Ihnen sprechen. Er muss Ihnen etwas sagen über den Diebstahl, aber er traut sich nicht. Er hat gesagt, ich soll erst mit Ihnen reden.«
Eva hatte das unbehagliche Gefühl, dass sie gerade in einer Situation steckte, die Fingerspitzengefühl erforderte. Das gehörte nicht gerade zu ihren Stärken. Überhaupt Kinder. Sie dachte nach und versuchte dann so behutsam wie möglich vorzugehen. »Weißt du denn etwas über den Einbruch?«
Wieder ein Kopfschütteln. »Der Andi weiß etwas. Aber er will nur mit Ihnen reden, wenn ich auch dabei bin. Sie dürfen ihn nicht einsperren, davor hat er fürchterliche Angst. Haben Sie Handschellen? Er sagt, wenn Sie Handschellen haben, kommt er nicht rüber.«
»Wie alt ist denn der Andi König?«, erkundigte sich Eva.
»Dreizehn«, wisperte Katharina. »Er ist bei den Konfirmanden. Haben Sie Handschellen?«
»Nein, ich habe keine, und wir sperren die Leute auch nicht einfach so ein, Katharina«, erklärte Eva. »Das dürfen wir gar nicht, nicht einmal, wenn jemand etwas Schlimmes getan hat. Und wenn derjenige noch ein Kind ist, sowieso nicht. Läufst du zum Andi und sagst ihm, dass wir nur mit ihm sprechen wollen, und
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