Sailer und Schatz 01 - Das ist mein Blut
Klara brachte es nicht über sich, sie zu löschen. Sie hatte schon lange aufgehört, von sich und Dietmar als Paar oder selbst als ehemaliges Paar zu denken; aber er war trotzdem ein Teil ihres Lebens geblieben, und vor allem war er Constanzes Vater, und dies waren die letzten Fotos von ihm. Wie auf ein Stichwort hin öffnete sich die Tür und ihre Tochter trat ein, ein Buch unter dem Arm.
»Mama?«
Sie nickte nur. Es wäre ihr in diesem Augenblick schwer gefallen, etwas zu sagen.
»Kann ich das Buch behalten? Papa hatte es dabei und hat’s vergessen.«
»Zeig mal her.« Klara streckte ihre Hände aus. »Sehenswürdigkeiten Frankens …« Sie blätterte in dem Reiseführer herum, der an vielen Stellen in Dietmars achtloser Handschrift kommentiert war. »Großartiger Karpfen«, hatte er neben einem Restauranttipp vermerkt, und neben einem anderen Lokal einen gesenkten Daumen gezeichnet. »Mit Conni besuchen?«, stand an anderer Stelle neben dem Hinweis auf eine Schokoladenfabrik, die auch Führungen für Kinder veranstaltete. Die Schrift erschien vor Klaras Augen einen Moment lang so verschwommen wie Constanzes verwackelte Fotos. Andere Einträge bezogen sich auf Orte, über die sich eventuell etwas schreiben ließ. Ein seltsamer Impuls ließ Klara das Register aufschlagen, um zu sehen, ob der Reiseführer etwas über das Castrum Sablonetum zu sagen hatte. Sie wurde auf den Eintrag über die Stadt Ellingen verwiesen. Perle des Fränkischen Barock. Das Deutschordensschloss, 1711 neu erbaut. Die Synagoge, in der Reichspogromnacht geplündert, aber erst in der Nachkriegszeit endgültig zerstört. Der Limesrundweg, der auch am Castrum Sablonetum vorbeiführt. Informationstafeln bei den Ruinen selbst erzählen von der Geschichte des ehemaligen römischen Stützpunktes. Weiter zu einem Grenzstein des alten Limes. Klara starrte fast enttäuscht auf die Seite herunter. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte – sicherlich keinen Hinweis darauf, warum Dietmar dort hatte sterben müssen, aber vielleicht doch einen Vermerk darüber, was ihn dort hinaus getrieben hatte. Aber das einzige, was Dietmar auf dieser Seite notiert hatte, waren die Worte: »Ellingen, die Stadt, in der es immer schifft«. Wie zum Beleg für die Wahrheit dieser Worte war die Tinte an ein oder zwei Stellen verlaufen und das Papier leicht gewellt von Regentropfen. Klara zog einen Zettel, den Dietmar zwischen die Seiten gesteckt hatte, aus dem Buch und reichte es dann ihrer Tochter. »Du kannst es sicher behalten. Aber pass gut darauf auf.«
Constanze barg das Buch sicher in ihren Armen und sah ihre Mutter aus großen, traurigen Augen an. »Warum können wir nicht zur Beerdigung bleiben?«, fragte sie trotzig.
Klara seufzte. Sie hatte ihr das ersparen wollen. Aber vielleicht hatte sie es in Wirklichkeit auch nur sich selbst ersparen wollen. »Wie du möchtest, Schatz«, sagte sie leise. »Bleiben wir zur Beerdigung.«
Die Reisetasche blieb offen auf Klaras Bett stehen.
35
»Also.« Friedolin hatte sich einen Stuhl herangezogen und sich verkehrt herum darauf gesetzt, nun verschränkte er die Arme über der Lehne. Vor ihnen auf dem Tisch summte der Computer. Papiere und Aktenordner lagen in einem chaotisch wirkenden Haufen herum, aber der junge Polizeibeamte schien genau zu wissen, wo was zu finden war. Rainer kam mit drei Bechern Tee hinzu, die er auf einem offenen Schnellhefter abstellte.
»Nicht da drauf!«, rief Friedolin entsetzt und beeilte sich, einen sicheren Platz zu schaffen. »Ich hab stundenlang gearbeitet. Wenn du da Tee drüberkippst, bring ich dich um.«
Eva musste lachen, wurde aber wieder ernst, als ihr Blick auf eines der Papiere fiel und sie darauf, mit Textmarker angestrichen, das Wort »Mordverdacht« las. Sie nickte Friedolin auffordernd zu. Der räusperte sich und begann: »Also. Das wisst ihr schon: Am 16.12.1955 wurde Friedrich Weiher tot aufgefunden, erschlagen von einem Bücherregal in seiner Wohnung in Ellingen. Zunächst ist die Polizei von einem Unfall ausgegangen, aber bald darauf ist der Sohn Heinrich unter Verdacht geraten.«
»Nur weil das mit dem umgekippten Bücherregal so unwahrscheinlich ist, oder gab es noch andere Gründe?«, wollte Eva wissen.
Der junge Mann nickte: »Beides. Das war ein richtig schweres Regal, altmodisches Ding, ihr wisst schon, so aus dunklem Holz. Und mit schweren Wälzern auf den Regalböden, Brockhaus und Ähnliches – die Bücher alleine hätten einen töten können, wenn sie
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