Salai und Leonardo da Vinci 01 - Die Zweifel des Salai
erhielt in ihren Kreisen schnell den Namen «die sechs Reformatoren» («sex reformatores»). Besorgt um die Wahrung ihrer Vorrechte, schickten einige Fürsten sofort Appelle an die Kommission.
Aus den Protokollen der Kommission geht hervor, dass Alexander VI. auf die Möglichkeit baute, eine oder zwei Bullen zur Reform zu erlassen, die die ersten durchschlagenden Wirkungen zeitigen sollten. Doch da die Anzahl der Machtmissbräuche, die aus allen christlichen Ländern gemeldet wurden, Sitzung für Sitzung immer höher wurde, kam man zu dem Schluss, dass das Mittel der Bulle nicht genüge. Konnte eine päpstliche Bulle die reichen und mächtigen deutschen Fürsten und die mit ihnen verwandten Bischöfe, die es gewohnt waren, selbst Recht und Gesetz auf ihrem Territorium zu sprechen (auch indem sie päpstliche Bullen fälschten) und das schrankenlose Leben des Hochadels zu führen, wirklich zu einem sittlicheren Verhalten bekehren? So zeichnete sich bald ab, dass ein allgemeines Konzil nötig wurde, wo die Delegierten aller Länder mit Sachkenntnis über die speziellen Probleme ihres Gebiets sprechen und dann inter pares über die anzuwendenden Maßnahmen entscheiden konnten.
Doch das Konzil, auf das in den Akten der Kommission Alexanders VI. wie auf ein kurz bevorstehendes Ereignis Bezug genommen wird, fand leider nie statt. Fast will es nicht als ein Zufall erscheinen, dass Alexander VI. sich plötzlich genötigt sah, eine Fülle gravierender Notsituationen zu meistern: Man denke nur an den französischen Einmarsch in Italien unter Karl VIII. und Ludwig XII. an die Kriege zwischen dem Kirchenstaat und den kleinen italienischen Fürstentümern oder an die ständige Bedrohung durch die Türken. Das nächste Konzil («Fünftes Laterankonzil» genannt) wurde von Papst Julius II. erst 1511 versucht, acht Jahre nach dem Tod Alexanders VI. Obwohl er seinen Vorgänger hasste, musste Julius II. zugeben, dass das so sehr ersehnte Konzil «aufgrund der allgemeinen Unglücksfälle, die zur Zeit von Papst Alexander begannen, Italien heimzusuchen und es seither immer noch heimsuchen, so lang verschoben werden musste». Zu spät: Nur sechs Monate nach dem Abschluss des Konzils verkündete Luther seine fünfundneunzig Thesen.
Die von Papst Borgia vorbereitete Reform wurde darum erst ab 1563 als Auswirkung des berühmten Konzils von Trient (1545-1563) durchgeführt. Die andere Reform, die protestantische, hatte ihren Einsatz im Spiel damals schon seit fast einem halben Jahrhundert gemacht.
Die Germania von Tacitus
Die Entdeckung des Grundlagentextes der deutschen Geschichte ist ebenso geheimnisumwittert wie unglaublich. Alle Umstände, von denen Salai in diesem Zusammenhang berichtet, sind wahr: Niemand weiß genau (und höchstwahrscheinlich wird man es nie erfahren), wer die Handschrift der Germania von Tacitus entdeckt und der Nachwelt überliefert, wer sie nach Italien gebracht hat und wann und wo sie dort aufbewahrt wurde. Die glaubhafteste Version ist jene, die Enoch von Ascoli als Entdecker sieht, aber auch ihr wird von mehreren Forschern widersprochen (darunter vor allem R. P. Robinson, The Germany of Tacitus , Middletown 1935, für den Poggio Bracciolini der Entdecker war).
Umstritten ist jedoch vor allem die Echtheit des Textes von Tacitus. Dass die Tacitus zugeschriebenen Werke nicht echt sind, wurde von vielen Autoren wiederholt behauptet. Begonnen hat im 19. Jahrhundert der Engländer John Wilson Ross ( Tacitus and Bracciolini: the Annals forged in the XVth century , London 1878). Er war der Erste, der Bracciolini die Fälschung der Annales zuschrieb, einem der beiden Hauptwerke des lateinischen Historikers. Zu demselben Schluss kam im 19. Jahrhundert der Franzose Polydore Hochart ( De l’Authenticité des Annales et des Histoires de Tacite , Paris 1890), der die Echtheit auch der Historiae bezweifelte, des anderen Opus magnum von Tacitus. Aber Hocharts Untersuchungen widerfuhr das gleiche Schicksal wie den Arbeiten De Roos: Sie wurden von keinem Historiker jemals ernsthaft diskutiert. Im 20. Jahrhundert griff der amerikanische Forscher Leo Wiener ( Tacitus’ Germania and other forgeries , in: Toward A History of Arabico-Gothic Culture , Bd. II, Philadelphia 1920) die Frage wieder auf und stellte nach einer philologischen Analyse des Textes fest, die Germania sei eine komplette Fälschung. Dennoch weigert die moderne Philologie sich nicht nur, die Hypothese zu diskutieren, dass Tacitus’ Germania gefälscht sei
Weitere Kostenlose Bücher