Salto mortale
Tagen hetzte er seine Phan-
tasie ab, um passende Kinderunterhaltung zu
suchen. Es fiel ihm nicht viel ein, denn seine
eigene Jugend war nichts weniger als ein Spiel
gewesen. Endlich kam ihm ein erlösender Ge-
danke: er wollte mit den Knaben das als Zeit-
vertreib üben, was als Arbeit fast sein ganzes
Leben ausgefüllt hatte, bis zu dem Tage, da man
ihm mit brutalen Worten zu verstehen gegeben,
seine Sprünge und Purzelbäume seien nicht
mehr elastisch und geschmeidig genug, mit so
hartknochiger Kunst sei niemand gedient.
„Hört, Buben,“ sagte er eines Tages zu ih-
nen, als sie fast nicht zu bändigen waren, „wer
von euch beiden zuerst auf den Händen ste-
hen kann, bekommt einen funkelnagelneuen
Fünfer!“ Und, das Wort mit der Tat begleitend,
langte er ein Nickelstück aus seinem Geldbeu-
tel und spiegelte es vor den Augen der Armen
in der Sonne. Das verfing. Gleich ging es an
ein Probieren und Zappeln und Purzeln und
Lachen. Der Lehrmeister, um den Zöglingen
zu zeigen, daß das Kunststück möglich sei, zog
Rock und Weste vom Leib, stemmte sich auf
die Hände und schritt so, mit den Fußspitzen
fast die Decke berührend, das ganze Zimmer
ab, was große Verwunderung und Heiterkeit
absetzte. In einem Augenblick hatte er die Her-
zen der Kleinen gewonnen und zugleich Macht
über sie erlangt, was bei Kindern dem immer
gelingt, der es versteht, in ihren Kreis hinab-
zusteigen, ohne aufzuhören, ihnen in irgend
etwas vorbildlich zu sein.
Unverdrossen zappelten an jenem Nachmit-
tage die kleinen Füße in der Luft und stemm-
ten sich die Arme gegen den Zimmerboden,
die Köpfe wurden rot wie Pfingstrosen und die
Augen glänzten vor Lust. Keinen Augenblick
dachten die Knaben an den ‚Sack‘, die Werk-
stätte und den brausenden Platz; sie rangen um
das Nickelstück, bis sie todmüde waren und
einschliefen.
Wie sie so dalagen, der eine auf dem Fuß-
boden, der andere auf der Bank, und ruhig den
Atem einzogen und ausstießen, betrachtete
das Kindermädchen Valentin sie lange, und Er-
innerungen stiegen in ihm auf, Bilder aus der
eigenen schweren Jugend und der halbverges-
senen Heimat. Er sah das alte Städtchen mit
der krummen Hauptgasse, in der die Gänse
herumwatschelten, das Tor mit der Uhr, die
nie gehen wollte, als fürchtete sie sich vor der
neuen Zeit. Neben dem Tor ein zusammenge-
drücktes Häuschen, das seinen Kopf furchtsam
neugierig hervorstreckte und in die Gasse hin-
einschielte. In dem Häuschen drei Buben, dar-
unter er selber, über ihnen der strenge Vater,
ein, man wußte nicht warum, seiner Stelle
entsetzter Turnlehrer, schroff, verbittert, und
nun bemüht, seine Knaben Akrobatenkünste
zu lehren, jahrelang Tag um Tag, bis endlich
die ganze Gesellschaft flügge wurde und durch
das Tor mit der stockenden Uhr ausflog, in die
Weite, von Flecken zu Flecken, von Stadt zu
Stadt und von einer Ungewißheit zur andern.
Wanderbilder stiegen vor ihm auf: die Tage
der Entbehrung, da die Menschen sich gegen
ihn und seine Brüder verschworen zu haben
schienen, und sie ihre Kunststücke vor leeren
Stühlen machen mußten; dann die Zeit des
Gelingens und Wohlergehens, wo man vom
Besten essen und vom Feinsten trinken konnte.
Es waren kurze Jahre. Der Vater gewöhnte sich
an, täglich einen starken Rausch zu trinken,
und eines Tages starb er eines raschen Todes
nach einem Sturz von der Treppe. Die Akro-
batenbrüder wurden von einem Unternehmer
gemietet und bald darauf auseinander gerissen,
dahin und dorthin, in alle Welt, einander für
immer verloren.
„Hätte der Vater das Geschäft verständiger
angepackt, ich säße jetzt in einem goldenen
Nest,“ dachte Häberle aufseufzend, und ein
Gedanke blitzte in ihm auf. „Wenn ich aus den
beiden Buben Artisten machte?“
Er maß sie mit langen forschenden Blicken
wie mit Zollstab und Zirkel. Sie waren an allen
Gliedern gerade und wohlgeraten und hübsch
obendrein: stark gekraustes braunes Haar, leb-
hafte Augen, besonders beim Jüngsten, fester
Nacken, gesunde Gelenke …
Aber es waren ja nicht seine Kinder; würde
die Mutter ihre Zustimmung geben?
Warum nicht? Er sah sie vor sich, die wan-
delnde, schleichende Mutlosigkeit, die sie war,
die fast jedes Wort mit einem Hauch anfing
und mit einem Seufzer schloß. Was konnte sie
für die Buben andres tun, als in fremden Häu-
sern fegen und knien und buckeln?
„Nehme ich ihr nicht eine schwere Last ab?
Was würde
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