Salto mortale
sonst wohl aus den armen Ratten
werden?“
Und wieder sann er vor sich hin. Was war
denn aus ihm selber geworden? Er sah sich
deutlich vor sich wie in einem Spiegel: fünfzig
Jahre und mehr schien er zu tragen und zählte
doch kaum vierzig. Oh, das Nerven fressende,
Menschen verbrauchende Gewerbe, das aufrei-
bende ruhlose Wanderleben, ohne dauernde
Befriedigung, im besten Falle ein Taumel, ein
glücklicher Rausch zwischen zwei Enttäu-
schungen! Durfte er das fremde Fleisch den
schweren Weg führen oder hetzen, den er sel-
ber gegangen?
Mit einem entschlossenen: „Warum nicht?“
räumte er die Zweifel aus dem Wege. Die ar-
men Schlucker hatten, alles abgewogen, ihm
schließlich noch zu danken! Hatte er nicht die
nötige Erfahrung, um das Unternehmen zum
guten Ende zu führen? War er ein Trinker und
Prasser? War er sein Vater?
Valentin Häberle erhob sich, reckte die
Glieder, probierte, wie fest die Fäuste sich
zusammenschlossen, und fühlte in sich eine
unendliche Kraft, ein Stück Wohlfahrt zu er-
ringen. Immer sicherer wurde er seiner Sache,
immer leiser protestierte das Gewissen in sei-
ner Brust und bald ging es mit vollen Segeln in
die Zukunft. Er hatte seine Kunst unter Prü-
geln gelernt und sie deshalb immer säuerlich
gefunden; seinen Schülern sollte sie ein be-
ständiges Fest sein. Und waren sie einmal zum
Geldverdienen etwas nütze, so wollte er zu ih-
nen Sorge tragen wie zu seinen Augen. Redlich
wollte er es mit ihnen meinen, ihnen eine gute
Vorsehung sein, und schon kam über ihn jenes
süße Gefühl, das Helfer, Wohltäter, Glückspen-
der beseelt. Und doch gehörte er nicht zu den
Empfindsamen und Weichherzigen.
Am folgenden Tage wurden die Übungen
wieder aufgenommen. Valentin Häberle wurde
fast jung mit den Kleinen, tat wie sie und ver-
setzte sie in Entzücken. Die Stunden vergingen
dem Alten und den Jungen wie vom Wind weg-
geblasen. Wer nach Glück jagt, wird leicht ein
Hexenmeister.
Als die Ermüdung über die Bübchen kam,
zog der Lehrmeister Wurst und Weißbrot aus
seiner Schublade, die stets so wunderlich roch,
und schnitt jedem etwas zurecht. Das tat er
nicht aus löblicher Freigebigkeit: „Sollen sie
mir zum Vorteil ausschlagen, so müssen sie
mit Kraft gestopft werden, mit Wassersuppe
und Kaffee im Magen kann keiner das Glück
erspringen“, sagte er sich. Ihre Muskeln mußten
wie Stricke, ihre Gelenke wie Stahl werden und
sollte er selber mit knurrendem Leib umherlau-
fen müssen. Er konnte es ja später nachholen.
Die Aussicht auf Vesperbrot und Wurst
machte den Knaben das lustige Spiel, als das
sie ihre Übungen auffaßten, noch lieber und
spaßhafter, sie wurden nach und nach von einer
wahren Leidenschaft gepackt; denn sie hatten
es bald weg, daß Meister Häberles Messer um
so tiefer in die Wurst schnitt, je mehr sie sich
angestrengt hatten.
Bald waren sie in ihrer Kunst so weit geför-
dert, daß sie eines Abends der heimkehrenden
Mutter auf den Händen entgegentappten und
ihr den rechten Fuß zum Gruß hinstrecken
konnten. Sie hatten den Scherz schon lange vor-
her heimlich verabredet, aber freilich die Wir-
kung nicht vorausgesehen. Die Mutter brachte
sie mit ein paar barschen Worten auf die Füße
und griff hastig nach ihren Handgelenken, wo-
bei sie den etwas verblüfften Meister Valentin
anschrie: „Sie haben ihnen die Gelenke gebro-
chen, Sie, Sie!“
Er begriff ihren Gedankengang und suchte
sie zu beruhigen, indem er ihr an seinen ei-
genen Gliedmaßen umständlich veranschau-
lichte, daß, wer auf den Händen gehen wolle,
keine gebrochenen Gelenke haben dürfe, daß
ihre Ansicht auf unvernünftigem Volksglauben
beruhe. Ob ihr denn noch nicht aufgefallen sei,
daß ihre Buben mit röteren Backen als sonst
umherliefen, Arme hätten wie Sennenbuben
und sich streckten wie Roggenhalme?
„Nun will er gar noch an ihrer Gesundheit
schuld sein!“ dachte Frau Seline und erwi-
derte: „Wachsen werden sie wohl müssen, ob
sie wollen oder nicht!“
„Mit Unterschied“, meinte er und gab dem
Gespräch eine andere Wendung: „Wenn Sie
wünschen, daß ich Ihre Buben hüte, so müs-
sen Sie mir schon gestatten, die Langeweile auf
meine Weise zum Kuckuck zu jagen.“
Er sprach es in einem Tone, der von ei-
ner Drohung nicht sehr verschieden war; das
machte mit einem Schlage aus der gereizten
Frau Seline die mutlose, sich vor jedem Wind-
stoß ängstlich duckende Witwe Zöbeli.
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