Salto mortale
Sie
hätte ihr Kindermädchen ungern verloren und
bat Meister Valentin demütig, ja ihre Worte
nicht übel aufzunehmen.
So blieb den Übungen ihr ungestörter
Fortgang. Herr Häberle war ein vortrefflicher
Lehrmeister, immer fand er ein Mittel, die
Knaben bei guter Laune zu erhalten. Reichten
Wurst und Brot nicht aus, so half er mit et-
was Nasch- und Zuckerwerk nach, hie und da
auch für besonders gute Leistungen mit einem
Nickelstückchen. Er wußte, daß es reichliche
Zinsen tragen würde. Die Kleinen nahmen es
strahlend in die vor Freude und Gier zitternden
Hände, um es am Abend der heimkehrenden
Mutter auszuliefern.
Nie wurde Meister Häberle ungeduldig, nie
warf er den Knaben ein zischendes oder knur-
rendes Wort hin, er war wie ein gutmütiger
Onkel oder wie ein älterer Bruder, und seine
knochigen Hände hatten die Weichheit von
Katzenpfoten.
An schönen Abenden führte er die Kleinen
vor die Stadt hinaus, an der nahen Berghalde
empor und kürzte ihnen den Weg mit Geschich-
ten, deren Worte er mühsam und berechnend
in seinen schlafarmen Nächten zusammenge-
sucht hatte, Geschichten von Knaben, die sich
mit Kunststücken aller Art einen ganzen Trag-
korb voll Geld verdient hatten, und in denen
Heinz und Franz sich immer selber erkannten.
„Es waren einmal zwei arme Buben, die hat-
ten ihren Vater verloren. Und sie gingen von
Hause weg, um ihn zu suchen und heimzuho-
len. Dabei kamen sie in einen großen Wald, und
als sie einen halben Tag lang gegangen waren,
stießen sie auf einen seltsamen Baum, dessen
Laub nicht Laub war, wie das eines Apfel- oder
Kirschbaumes, sondern jedes Blatt war ein
Golddukaten, und die Dukaten klingelten bei
jedem Windstoß gegeneinander und kicherten
und flüsterten:
„Frisch und munter!
Holt uns herunter!“
Die Buben, einer nach dem andern, such-
ten hinaufzuklettern; aber der Stamm war glatt
wie ein Aal, es war nicht hinanzukommen.
Und immer flüsterten die Blätter: „Frisch und
munter!“
Die Knaben sahen mit sehnsüchtigen Au-
gen zu ihnen empor und jeder versuchte einen
Sprung und reckte die Hände. Die Dukaten
hingen zu hoch und kicherten und neckten die
Kleinen:
„Lernt fliegen wie Mücken,
So mag’s euch gelücken!“
Da fingen die Knaben an das Fliegen zu ler-
nen und sprangen in die Luft, den Golddukaten
entgegen, bis die Nacht sank und sie todmüde
unter dem Baume einschliefen. Im Traum aber
tönte in einem fort das Wort auf sie herab:
„Frisch und munter!
Holt uns herunter!“
Bevor die Waldvögel zu zirpen und zu
schlagen anfingen, waren die Knaben wieder
auf den Füßen und begannen aufs neue das
Springen und Fliegenlernen und freuten sich,
daß es ihnen schon etwas höher glückte als
gestern. Aber es reichte immer noch nicht bis
zum ersten Zweig. Ja, es schien ihnen, daß der
Ast sie äffe und jedesmal, wenn sie sprangen,
einen Ruck nach oben tue, wobei das Laub
daran sich in Neckerei und Spott erging.
Schon stand die Sonne gerade über dem
Baum, und das Goldlaub glänzte und funkelte
und flunkerte so wunderbar, daß die Knaben
von dem Scheine halb geblendet wurden und
vor Begier nach dem Geblitz und Geflimmer
zitterten.
Da kam einem ein Gedanke, ich glaube, es
war der Jüngste.
„Stell dich aufrecht hin“, sagte er zum Bru-
der, und als dieser so getan, kletterte er ihm
auf die Schultern und von den Schultern auf
den Kopf, ließ sich in die Knie nieder, streckte
die Arme nach vorn und holte zum Sprunge
aus. Und der Sprung geriet so wohl, daß der
Kleine nicht nur den Ast erreichte, sondern
hoch darüber wegflog und auf der andern Seite
herunterpurzelte.
Dem Baum aber gefiel das Kunststück der-
maßen, daß er sich vor Lachen nicht halten
konnte und von den Wurzeln bis zum Wipfel
sich ganz unbändig schüttelte, und bei dem
Schütteln und Rütteln fielen die schweren Gold-
blätter von den Zweigen und klingelten zu Bo-
den und auf die Köpfe der erstaunten Buben.
Im Nu war der Wunderbaum kahl und die
nackten Zweige seufzten:
„Ich hab’ kein Laub nicht mehr;
Wenn’s nur schon Frühling wär’!“
Darauf achteten die zwei Brüder nicht. Sie
füllten sich die Taschen und, da ihnen das zu
wenig schien, flochten sie einen großen Trag-
korb und warfen Golddukaten hinein, bis er ih-
nen fast zu schwer war. Dann stapften sie der
Heimat zu. Es war Nacht, als sie in die Stube
eintraten. Sie schütteten all ihr Gold auf den
Boden aus, und der Raum wurde
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