Salto mortale
Fehler
eines andern zwischen zwei Güterwagen mit
dem Leben bezahlt. Die Gesellschaft bot der
Witwe eine kleine Entschädigung an, ein Al-
mosen, denn sie glaubte beweisen zu können,
daß Zöbeli sein Unglück selbst verschuldet
und ihr zudem großen Materialschaden zuge-
fügt habe.
Der Witwe, die vor einem unsichern Pro-
zeß zurückschreckte und niemand zum Raten
an der Seite hatte, blieb nichts übrig, als die
tausend Franken, die man ihr anbot, hinzu-
nehmen; aber wie sie dem rauhen Beamten die
Hand hinstreckte, kam sie sich wie eine gede-
mütigte Bettlerin vor, zum erstenmal in ihrem
Leben, und sie sank schluchzend auf einen
Bürostuhl nieder. Sie hatte Groll und Abscheu
gegen das Geld, ihr war, das Blut ihres Mannes
klebe daran, und sie war froh, als sie es in einer
Sparkasse untergebracht hatte; dort mochte es
liegen und wachsen, sie würde nie mehr daran
rühren. Sie würde auch niemals daran sinnen,
wenn ihre zwei Buben nicht wären, wenn es sie
nicht manchmal schmerzte, sie in so armseli-
gen zusammengeflickten Kleidern und vor so
magern Schüsseln zu sehen. Für sie sollte das
Geld sich mehren, um ihnen einmal auf einen
grünen Zweig zu helfen.
Ja, die Buben! Wie hätte sie alles ohne sie
getragen! Als man ihr die Nachricht von dem
großen Unglück brachte, hätte sie sich durch
das Fenster auf das Pflaster gestürzt, hätte ihr
nicht gerade der jüngste an der Brust gelegen,
um sich zu stillen. Und so war es geblieben: sie
fand die Kraft zum Leben und überwand die
Unlust zur Arbeit nur durch sie. An ihr selber
lag ihr nichts, ihretwegen mochte alles gehen,
wie es wollte; für die Kleinen aber mußte ge-
opfert werden.
Der ältere der Knaben war nun fünf, der jün-
gere drei Jahre alt, Heinrich und Franz hießen
sie. Wenn die Mutter am Morgen ihrem Tage-
werk nachging, sagte sie zum ‚Großen‘: „Gib
acht, daß dem Franzli nichts geschieht! Du
mußt jetzt sein Vater sein, weil der andere im
Kirchgrab liegt.“
Und Heinz erwiderte: „Ja, ja, geh nur,
Müeti!“ Er kam sich ganz würdevoll und wich-
tig vor als Vater seines Knirpses von Bruder
und ging mit ihm um wie mit dünnem Glas.
Waren die beiden nicht zu großen Taten
aufgelegt, so verweilten sie sich in dem Dach-
stübchen, das eng und arm, aber, dank dem
Sonnenlicht, das ungehemmt vom Himmel her-
einflutete, doch freundlich war. Da setzte sich
der Kleine auf den Schemel, der Große spannte
sich davor und hü! hü! ging es von einer Ecke
zur andern, daß der Fußboden kreischte. Oder
dann stellten sie sich ans Fenster und guckten
hinab und hinüber nach den vielen mannigfal-
tig gestalteten Dächern; nach den Spierschwal-
ben, die vor Lust schreiend um die Hausecken
und Giebel sausten; nach den Katzen, die über
die Ziegel schlichen, sich in der Sonne dehn-
ten und streckten, oder sich nach den Spatzen
duckten, die unartig in den Dachrinnen sich
rauften; nach den Kaminen und dem Rauch,
der sich daraus emporschraubte, aus jedem in
anderer Gestalt, keinen Tag wie den andern;
und dann fragten sich die Knaben: „Was wird
wohl dort gekocht und gesotten? Und dort?
Und dort? Und wer steht unten am Herd und
bläst ins Feuer? und wer streut Mehl in die
Pfanne und rührt es mit dem Löffel um, bis es
aufgeht wie Milch?…“
Erwachte die Unternehmungslust in ihnen,
so nahmen sie sich bei der Hand und stiegen
die düstern unendlichen Treppen mit dem kleb-
rigen Geländer hinab und hinaus in den ‚Sack‘.
Der ‚Sack‘ war eine Ausstülpung der Schlauch-
gasse, ein Arm, den sie nach dem verlorenen
Miethause ausstreckte, in dessen Dachwoh-
nung Frau Seline Zöbeli mit ihren Kindern Un-
terkunft gefunden hatte.
Der ‚Sack‘ war nicht drei Schritt breit und
kaum einen Steinwurf lang, bildete aber für die
Zöbelibuben nichtsdestoweniger eine kleine
Welt. Er war vor allem ihr Tummelplatz. Das
schlechte Pflaster und eine Tischlerei lieferten
ihnen das Spielzeug. Auch Kameraden fanden
sie da, die drei Kinder des Schreinermeisters,
die ihnen die Werkstatt des Vaters, einen riesi-
gen, nie ganz zu ergründenden Guckkasten, er-
schlossen. Stundenlang standen sie bis zu den
Knien in den nach Harz und Leim duftenden
Spänen und sahen den Gesellen zu, die den Ho-
bel ruckweise über die Bretter schoben, wobei
das Holz aufschrie, als täte man ihm ein Leides
an. Dann wieder verfolgten sie das grimmige
Werk einer Säge, das polternde Tun eines Ham-
mers, vor dem
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