Salto mortale
mir zuerst, du seiest nicht böse! Sag’s,
Müeti! Oder schlag mich und sei dann wieder
gut! Schlag mich, so stark du kannst!“
„Geh, ich möchte am liebsten ins Wasser
springen, man hat nichts als Kummer von dir!“
„Bin ich denn allein schuld? Ich wollte ja
nicht mehr spielen!“ Die Tränen rollten ihm
aus den Augen und bettelten für ihn. Ach, was
waren ihr Tränen, sie hatte heute selber deren
genug vergossen und erwiderte: „Nein, du bist
nicht schuld!“
Er fühlte, daß sie es anders meinte, ihr: „du
bist nicht schuld“ war spitz wie eine Nadel.
Fester klammerte er sich in der Angst seines
Herzens an sie an, sie aber hatte den Auftritt
satt und ließ ihn rauh an: „Laß mich los, soll
der Kleine deinetwegen aufwachen!“
Nun fielen seine Arme schlaff herab, und
sie ging in ihre Schlafkammer. Einen Augen-
blick empfand sie Reue über ihr unmütterliches
Betragen, und sie war im Begriffe umzukehren.
Aber nein, sie konnte es nicht, sie konnte für
ihn kein gutes Wort finden, heute wenigstens
nicht, ihr unsäglicher Schmerz und ihr Zürnen
mußten sich auf jemand entladen.
Heinz blieb auf dem Boden liegen und wand
sich. Er wurde von derjenigen gehaßt, die er so
sehr liebte, er hat sie und Franz unglücklich
gemacht, wie konnte er das aushalten?
„Fort, weit, weit weg!“ tönte es in ihm, und
dann hörte er wieder ein anderes Wort, ein
Wort der Mutter. Das ward ihm zu einer Er-
leuchtung.
Er wartete, bis alles ganz still geworden war,
dann erhob er sich, schlüpfte leis in die Kleider,
beugte sich über Franz, ohne ihn jedoch zu be-
rühren, aus Furcht ihn zu wecken, und schlich
auf den Zehen in die Stube und von da in den
Hausflur und die Treppe hinunter, in beständi-
ger Angst, die Stimme der Mutter möchte hin-
ter ihm erschallen. Mit Anstrengung schob er
den schweren Riegel zurück, und dumpf und
knurrig schlug die ungefüge Tür hinter ihm zu.
Er eilte hinaus in den ‚Sack‘, an der Werkstätte
Meister Wäspis vorbei und dann die stillen,
menschenleeren Gassen entlang, nur von sei-
nem flüchtigen Schatten und dem Monde be-
gleitet. Die Mutter hatte ihm mit ihrem Worte:
„Ich möchte am liebsten ins Wasser springen!“
den Weg gewiesen. In früheren Jahren hatte
er sich daran gewöhnt, unter dem Sprung ins
Wasser sich etwas Gutes, Erleichterndes vorzu-
stellen, er hatte ihn ja schon einmal versuchen
wollen, jetzt galt es ernst.
Schon sah er die Brücke vor sich und deut-
lich gurgelte und rauschte und flüsterte nun
der Fluß empor. Es wurde Heinz ganz leicht
zumute, das mußte ja die Erlösung sein! Wie
andere Menschen ins Bett steigen, mit dem
Vorgefühl der Ruhe und der Schwerelosigkeit
die Decke zurückschlagen und sich hinsinken
lassen, so stieg er auf das eiserne Geländer und
darüber weg, ohne zu zaudern, ohne Furcht
und Grausen, drunten lag ja sein Ruhebett.
Die Wasser rauschten kaum auf, als er ver-
sank; nicht einmal sie spendeten ihm Beifall,
als ihm endlich sein Salto mortale gelang. Das
war nun einmal sein Los.
Tags darauf fand ein Fischer den Leichnam
eine Stunde unterhalb der Stadt. Das Röhricht
hatte Heinz mit weichen Armen aufgenommen
und gewiegt und gab ihn nun den Menschen
und dem Staube zurück.
Das Antlitz war ruhig, wie das eines Schlä-
fers, nur um den Mund lag ein leichter Zug der
Unzufriedenheit, als verfolgte der bittere Ge-
schmack der Zurücksetzung den Armen auch
im Tode noch.
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