Salve Papa
unserer Armeebibliothek standen drei Bücher: das Grundgesetz, die Armeegesetze und die Broschüre Wir spielen Schach, 1984 im Verlag Physische Kultur erschienen. Ein vor Kurzem in Moskau verurteilter Serienmörder erklärte dem Richter, er hätte eigentlich für jedes Schachfeld einen Mord begehen, also vierundsechzig Menschen töten wollen, wäre aber nicht so weit gekommen, weil man ihn vorher verhaftet hätte. Die Zeitungen hatten ihn daraufhin »den Schachbrettmörder« genannt. Sein Wahn war eine logische Folge der ungeheuren Schachpropaganda in der UdSSR.
Der sowjetische Staat unterstützte das Schachspiel großzügig. Gleich nach der Revolution 1917 fand der erste revolutionäre Schachkongress in Petrograd statt, und auf dem Land entstanden unzählige Schachvereine, die eine Armee von qualifizierten Schachspielern hervorbrachten. Die Großmeister waren populärer als Schauspieler. Sie tourten jahrelang durch die Städte und Dörfer, spielten gleichzeitig auf mehreren Brettern, schrieben Bücher und signierten ihre Fotos.
Warum propagierte der sowjetische Staat ausgerechnet Schach und nicht Fußball? Die Antwort liegt auf der Hand: Schach war preiswert und diente der Ablenkung, damit die Menschen sich nicht zu viele Gedanken über die Politik machten. Stattdessen sollten sie lieber über ihren nächsten Zug nachdenken. Auch diente Schach der Ablenkung vom Alkohol, denn Betrunkene konnten sich nicht konzentrieren. Dazu kam die spielerische Komponente. Es gab im Schach klare Sieger und Verlierer, wie sie im planwirtschaftlich langweiligen Sozialismus fehlten. Schach ersetzte alles Schöne im Leben: Es war Spiel, Sport, Kunst, Leidenschaft und Wissenschaft. Und das alles auf einem Stück Holz, bemalt mit vierundsechzig Quadraten. Heute spielen vor allem ältere Leute in Russland Schach, die jüngeren fahren stattdessen Ski.
Ich habe mich mehrmals im Kreis meiner Familie als Schachspieler versucht. Gegen meine Kinder spielte ich mit Erfolg. Allerdings ist es mir nie gelungen, gegen meine Eltern zu bestehen.
»Warum hast du überhaupt deine Figuren angerührt, sie haben so gut gestanden?«, fragt mich mein Vater jedes Mal schon nach der Eröffnung.
Der Populus freut sich und lacht
Es geht voran mit unserem Latein. Jeden Tag bringt meine Tochter ein paar neue Sprüche aus dem Unterricht nach Hause, die mich komischerweise an den Marxismus-Leninismus-Unterricht an meiner sozialistischen Schule erinnern. Wir mussten die Aufsätze von Lenin und Marx konspektieren, das heißt eine Zusammenfassung ihrer Ideen anfertigen. Lenin hat wie Marx oft und gerne Latein verwendet, um moralische Gesetze für den Aufbau des Kommunismus zu formulieren. »Vita sine libertate nihil« oder: »Qui non laborat, non manducet«. Vielleicht hat Lenin von Marx bloß abgeschrieben? Meine Tochter sagt: »Populus gaudet et ridet«, wenn meine Schwiegermutter ihr das Frühstück in den Schulranzen packt.
Meine Schwiegermutter macht dieses Latein zunehmend nervös. Sie hat schon genug Probleme damit, dass der Populus um sie herum laufend Deutsch spricht, eine Sprache, derer sie nicht mächtig ist. Dann wechseln ihre eigenen Enkelkinder auch noch ständig vom Russischen ins Deutsche, teils aus Spaß, teils unbewusst. Und jetzt auch noch Latein. Meine Schwiegermutter lacht dann einfach, sie lässt sich nichts anmerken. Und der Kinder-Populus freut sich wie Bolle über das sprachliche Durcheinander.
Laut Nicoles Lateinlehrbuch hat sich das Volk im alten Rom rund um die Uhr amüsiert. Das Leben dort war der reinste Spaß. Die Hauptfiguren der meisten Übungen heißen Marcus und Cornelia. Marcus hat sich in Cornelia verknallt, kann es ihr aber nicht sagen, er hat dafür keine Zeit. Jeden zweiten Tag muss Marcus in den Circus, jeden ersten Tag in der Woche muss er in den Thermen schwitzen. Im Circus ist es zu laut für Liebeserklärungen, in den Thermen zu still. Außerdem gab es im alten Rom keine »gemischten« Badezeiten. Männer und Frauen durften nur zu unterschiedlichen Zeiten ins Becken.
Nebenbei gesagt, ist es im heutigen Berlin nicht weniger anstrengend, sich in der Sauna zu unterhalten. Die Deutschen schweigen beim Schwitzen so angestrengt, als ginge die ganze Heilwirkung des Saunabesuchs mit einem gesprochenen Wort verloren. Wenn jemand in der Sauna zweimal hintereinander hustet, zischen ihn die Nachbarn sofort an: »Ruhe!« Ich möchte nicht verallgemeinern, aber bei uns in Ostberlin nimmt sich der Sauna-Populus sehr ernst. Nicht
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