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Salve Papa

Salve Papa

Titel: Salve Papa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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umsonst heißt die Sauna neben meinem Haus »Schwimmhalle Ernst-Thälmann-Park«. Ich glaube, die meisten, die dort schwitzen, haben ihr Latein einst ebenfalls im Fach Marxismus-Leninismus gelernt.
    Inzwischen geht mir Latein ziemlich auf die Nerven. Ich hoffe, dass meine Tochter früher oder später doch zurück zum Russischen findet oder zumindest zum Deutschen. Ist der Mensch nicht ein geheimnisvolles Wesen? Gestern wollten wir unbedingt, dass Nicole Latein spricht, heute wollen wir, dass sie damit endlich aufhört. Die Menschen wissen nie, was sie wirklich wollen.
    In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Erzählung aus meiner Jugend, die mich damals ziemlich erschreckt hat. Einmal beschwerte sich ein Elternpaar bei einem Arzt, ihre vierzehnjährige Tochter würde gar nicht sprechen.
    »Ein schwieriger Fall«, sagte der Arzt, nachdem er die Tochter genauestens untersucht hatte. »Die zeitgenössische Medizin kann die genauen Ursachen für derlei psychische Abweichungen nicht benennen. Wahrscheinlich hat ihre Tochter Angst davor zu sprechen. Wir müssen Gleiches mit Gleichem bekämpfen. Wir müssen ihrer Tochter noch einmal Angst einjagen, dann redet sie womöglich wieder. Ich werde mich, wenn Sie das nächste Mal kommen, hinter dieser Gardine verstecken. Ihre Tochter darf mich nicht sehen. Und während sie auf dem Stuhl sitzt und sich langweilt, springe ich heraus und haue ihr ein nasses Tuch über den Kopf. Das Ganze wird Sie fünfundzwanzig Rubel kosten, und ich kann keine hundertprozentige Garantie geben, aber es hat schon bei zwei anderen Patienten geholfen«, sagte der Arzt und kratzte sich am Bart.
    Fünfundzwanzig Rubel waren viel Geld. Doch der Wunsch, wieder die Stimme ihrer einzigen Tochter zu hören, war so stark, dass die Eltern dem Experiment zustimmten. Gesagt, getan. Am nächsten Tag kamen sie mit ihrer Tochter in die Praxis. Der Arzt stand hinter der Gardine, wartete auf den günstigsten Augenblick und sprang heraus, als man ihn am wenigsten erwartete. Selbst die eingeweihten Eltern erschraken so, dass die Mutter fast vom Stuhl fiel. Die Tochter ließ sich zuerst nichts anmerken, dann schaute sie sich um, als würde sie gerade aufwachen. Und dann geschah das Wunder: Sie fing an zu reden. Sie redete und redete wie ein Wasserfall, wirres Zeug, das niemand verstand. Trotzdem waren die Eltern überglücklich, ihre Stimme zu hören. Sie bezahlten und gingen mit der sprechenden Tochter nach Hause.
    Eine Woche später kamen sie zurück. Die Tochter redete und redete immer noch wie ein Wasserfall, Tag und Nacht und völlig sinnfrei. Sie hatten keine Ruhe mehr, konnten nicht schlafen und nicht mehr essen. Ob der gnädige Doktor die Operation mit dem Handtuch wieder rückgängig machen könne, fragten sie. Sie würden auch fünfzig Rubel dafür zahlen. Der Doktor schüttelte den Kopf. »Der Mensch – das geheimnisvolle Wesen.«
    Mehrmals versuchten die geplagten Eltern mit verschiedenen Überraschungsangriffen ihre Tochter zum Schweigen zu bringen. Es ging nicht. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann redet sie noch heute.
     

Karl Friedrich
    Eine der beliebtesten Erziehungsmaßnahmen der Eltern in unserem Bezirk ist der Kindertausch mit Übernachtung. Es soll ein großer Spaß und ein Abenteuer sein, einmal in einem fremden Bett zu schlafen. Obwohl ich nicht glaube, dass Kinder tatsächlich schlafen, wenn sie mit Gleichaltrigen die Nacht unter einem Dach verbringen. Sie halten einander mit Horrorgeschichten wach, lesen mit der Taschenlampe und laufen in der dunklen Wohnung barfuss zum Kühlschrank, lagern Äpfel und Süßigkeiten unter der Matratze und vergessen sie dort. Bis jetzt haben alle Kinder, die bei uns übernachtet haben, eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Außer Karl Friedrich. Dieses Kind hinterlässt Ordnung sowie eine Atmosphäre der Unsicherheit und der Angst, etwas Falsches getan zu haben. Alles begann damit, dass mein Sohn Sebastian einmal bei Karl Friedrich zu Hause übernachtete. Die Jungs spielten dort Eiszeitmenschen, und zu diesem Zweck schlug Sebastian vor, eine Hütte aus den Aktenordnern des Vaters von Karl Friedrich zu bauen und später anzuzünden. Es war ein harmloses Spiel, schließlich besaß der Vater von Karl Friedrich, ein Anwalt, mehr Aktenordner als ein Baum Blätter hat. Man konnte ein ganzes Dorf aus diesen Aktenordnern bauen, auf ein paar verbrannte kam es in dieser Sammlung nicht mehr an, so dachte ich. Der Anwalt aber dachte anders. Lächelnd bestand

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