Salve Papa
Sommerferien. Im Juni gab es kaum noch Unterricht, und die Schüler waren mit der Ausgestaltung des Hofs beschäftigt. Auch das wöchentliche Chorsingen fiel wegen der Hitze aus. Stattdessen sang Ina mit uns auf unseren Grillpartys russische und sowjetische Lieder. Abends ging sie mit ihren neuen Freunden aus der Schule zu irgendwelchen Ska- und Reggae-Konzerten, die es um diese Jahreszeit in unüberschaubarer Zahl in Berlin gab. Und sie wollte unbedingt ihren deutschen Freunden den russischen Klassiker Alexander Puschkin auf Deutsch vortragen. Die fanden aber Puschkin nicht so toll.
Inas letzte Unterrichtsstunde war Englisch. Der experimentierfreudige Lehrer hatte die Idee, mit Hilfe des alten Songs »Hotel California« bei seinen Schülern die Lust auf Englisch zu stärken. Dazu schnitt er den Text des Liedes Zeile für Zeile auseinander und verteilte die Papierstückchen in der Klasse. Die Schüler sollten das Lied wieder in der richtigen Reihenfolge zusammensetzen. Doch niemanden interessierte dieses Hotel Kalifornien. Draußen schien die Sonne, und die Schule ging in ein paar Tagen zu Ende. Auch wusste kaum noch einer, worum es in dem Lied ging. Der Text fiel auseinander, und egal, wie man die Zeilen zusammensetzte, es ergab keinen Sinn.
Innerlich war Ina schon bei sich zu Hause in Nischni Nowgorod. Die letzten zwei Tage vor der Abreise verbrachte sie im Kaufrausch, um Geschenke für die Familie und sich selbst einzukaufen. Ihr Hab und Gut hatte sich in den drei Monaten erheblich vermehrt, und sie brauchte zusätzliche Taschen, um alles einpacken zu können.
An einem Samstag brachten wir sie zum Busbahnhof. Diesmal standen dort noch mehr Kinder und Eltern als bei der Anreise, so als hätten sie sich in den drei Monaten ebenfalls vermehrt. Die Busse kamen mit sechs Stunden Verspätung, und nicht einmal die Busfahrer wussten, wer wann wohin fuhr. Es herrschte ein großes Durcheinander. Nachbarstädte taten sich zusammen, um einen Bus zu bekommen. Nischni Nowgorod erhielt ein paar Plätze im Bus nach Pensa und Saratow.
Noch vor der Abreise fiel bei einem Pensa-Schüler eine Flasche Wein aus dem Rucksack, die sofort vom Busfahrer beschlagnahmt wurde. Dafür wurden die Pensa-Schüler von ihren Kollegen aus Saratow sogleich zur Sau gemacht. Sie seien Schlappschwänze und Nichtsnutze, nicht einmal eine Flasche könnten sie gut verstecken, wütete Saratow. Pensa schwieg, sich seiner Schuld vollkommen bewusst.
Zwei Tage später rief Inas Mutter aus Nischni Nowgorod an. Sie hatte schon Angst gehabt, ihr Kind nicht mehr verstehen zu können, weil sie dachte, Ina würde sich bei uns in ein richtiges deutsches Mädchen verwandeln. Doch jetzt sei sie beruhigt – Ina sei unverändert zurückgekommen, könne noch immer gut Russisch, und dafür wolle sie sich bei uns bedanken. Nichts zu danken, das sei doch eine Selbstverständlichkeit, sagten wir. Plötzlich schien uns unsere Wohnung viel größer und die Familie kleiner geworden zu sein. Nein, Ina ist für immer nach Hause gefahren, erklärten wir unseren Kindern, aber vielleicht kommt sie irgendwann wieder.
Nur zwei Dinge erinnerten noch an unser Gastkind: Eugen Onegin von Puschkin auf Deutsch und ein Papierstück mit zwei englischen Zeilen auf dem Küchentisch, ihr ungelöstes Rätsel: Plenty of room at the Hotel California, Any time of year, any time of year, you can find it here …
In Nizza
Unsere Familienpolitik in Bezug auf Urlaub ist paradox: Die anerkannten Ferienziele besuchen wir nur außerhalb der Saison. Während der Saison fahren wir am liebsten zu meiner Schwiegermutter in den Kaukasus oder zu anderen Verwandten, die uns gerne wiedersehen. So fuhren wir jetzt mit den Kindern im Februar nach Nizza. Im Sommer ist diese Stadt bestimmt überfüllt und verstunken, und die Touristen werden von den Einheimischen in großem Stil abgezockt. Im Winter dagegen ist Nizza ruhig und relativ preiswert. Der Tourismus hält sich in Grenzen, überall wird gebaut, und überall hört man nur Französisch, sogar auf den Baustellen. Das hat mich gewundert, denn auf Berliner Baustellen hatte ich schon lange kein Deutsch mehr gehört. Entweder bauen die Franzosen noch selbst, oder sie stellen nur Leute mit Sprachkenntnissen ein.
Obwohl ich meiner Tochter seit zwei Jahren Französischunterricht bezahle, kann sie nur »danke«, »bitte«, »hallo« und »auf Wiedersehen« in dieser Sprache sagen. Das kann jeder. Aber einen einfachen Satz wie »Ich würde diesen Salat schon
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