Salve Papa
würden alle Orangensaft mögen. Um sich zu disziplinieren, kauften sie deswegen immer nur Apfelsaft und verdünnten ihn auch noch mit Wasser, weil das angeblich gesünder sei. Ein anderes Mädchen berichtete, sie müsse bei ihren Gasteltern ständig deren Holzzaun streichen. Man erzählte sich, dass mehrere Schüler aus dem Programm bereits nach der ersten Woche zurück in ihre Heimat geflüchtet seien, von Heimweh und den Gasteltern gequält. Nur die Hartnäckigsten wären geblieben.
Etliche Gastkinder beklagten sich über unzureichende Ernährung. Die deutschen Eltern aßen deutlich weniger, als es die russischen Schüler von zu Hause gewöhnt waren. In Russland besteht eine Mahlzeit in der Regel aus drei Gängen, mit einem unverzichtbaren Hühnchen zum Dessert, wobei jeder Gang den Monatsbedarf an Kalorien eines durchschnittlichen Deutschen deckt. Die deutschen Gasteltern konzentrierten sich dagegen mehr auf gesundes Gemüse. Nur unsere Ina hatte in zwei Monaten acht Kilo zugenommen. Ha! Dem Kind sollte es ja an nichts fehlen. Sie ist quasi das Opfer unserer Gastfreundlichkeit geworden. Um abzunehmen, beschloss Ina zu joggen. Sie bereitete sich auf diese Maßnahme einen halben Tag lang vor, kam dann aber nach fünf Minuten wieder zurück. Das Joggen hatte sich als zu anstrengend erwiesen. Und eine andere Sportaktivität konnten wir ihr nicht bieten. Zwar ging sie dreimal mit uns zur Russendisko, aber auch dort konnte sie nicht allzu viele Kalorien loswerden, weil sie aufgrund des herrschenden Platzmangels die ganze Zeit an der Wand stand.
Dafür verlor sie dann einige Kilo und beinahe auch ihre Jungfräulichkeit am russischen Unabhängigkeitstag, dem zwölften Juni. Vier bekannte russische Popbands sollten auf der großen Bühne im Tempodrom auftreten, unter anderem Inas Lieblingsband aus Nischni Nowgorod mit dem merkwürdigen Namen »Umaturman«. Als Superrussen bekamen wir eine Einladung in den VIP-Bereich. Schon Tage vor dem Konzert fing unser Gastkind an, sich komisch zu benehmen. Es wurde schwer ansprechbar, saß in der Küche und schaute verträumt an die Decke. Mit Mühe fanden wir heraus, dass Ina sich von dem »Umaturman«-Sänger Wowa stark angesprochen fühlte. Sie konnte es nicht erwarten, ihn aus der Nähe zu erleben.
Am zwölften Juni versammelten sich abends sechstausend Russen im Tempodrom und winkten mit kleinen russischen Fahnen. Im VIP-Bereich hockte ein unrasierter Jüngling mit einer Gitarre vor dem Bauch und einer schmutzigen Mütze auf dem Kopf. Ina wurde schlecht.
»Das ist er«, sagte sie und lächelte verwirrt.
Meine Frau und ich gingen an den Tresen, um uns mit Getränken einzudecken. Als wir zurückkamen, war Ina verschwunden. Auch der Jüngling mit der Gitarre hockte nicht mehr da.
»Hmm«, machte meine Frau.
Wir fühlten uns plötzlich mit einem ganz neuen Problem konfrontiert, das schwer auf unseren ohnehin schwachen Gasteltern-Schultern lastete. Nach einer kurzen Beratung beschlossen wir, nichts zu tun. Unsere Freunde, Bekannten und sogar Unbekannte versorgten uns im Minutentakt mit Details:
»Die beiden sitzen neben der Bar auf dem Boden.«
»Er holt für sie etwas zu trinken. Ist sie schon sechzehn?«
»Er sieht nach einem gefährlichen Aufreißer aus.«
Unter dem Druck dieser Öffentlichkeit mussten wir Ina schließlich evakuieren und das Konzert vorzeitig verlassen. Der Sänger hatte ihr ein Autogramm auf ihre kleine russische Fahne gekritzelt, die sie umklammert hielt. Erst am Abend des nächsten Tages konnte sie wieder sprechen.
Nach zweieinhalb Monaten auf unserem fremden Boden hatte sich Ina endlich an die neue Umgebung gewöhnt. Unser Gastkind war nicht mehr so verschlossen wie am Anfang, versteckte sich nicht in ihrem Zimmer, erzählte uns freiwillig und ausführlich alle Ereignisse des Tages und nahm an der Vorbereitung des täglichen Familienessens teil. Sie ging auch zwischendurch mal locker an den Kühlschrank und war mit dessen Inhalt bestens vertraut. Ina wurde genau so, wie sie sich einst selbst in ihren Bewerbungsunterlagen beschrieben hatte – offen und kontaktfreudig. Wir freuten uns über diese lang ersehnte Verwandlung, nur ging Inas Zeit nun bereits zu Ende. Darin lag offensichtlich der Nachteil dieses Gastkinder-Programms. Kaum waren drei Monate vergangen, die benötigt wurden, um sich der neuen Umgebung anzupassen, kaum gewöhnte man sich aneinander, schon musste das Kind wieder abreisen.
Die Schule befand sich bereits auf dem Weg in die
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