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Salve Papa

Salve Papa

Titel: Salve Papa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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auflöste. Es stank im ganzen Klassenraum.
    Die Schule bot also viel Unterhaltung. Im Geschichtsunterricht kam gleich am ersten Tag ein Uniformierter in die Klasse. Er schrieb »11/09« an die Tafel und fragte die Schüler, ob sie wüssten, was das bedeutete. Die meisten wussten es. Der Mann in der Offiziersuniform erklärte ihnen die Welt als ein Konfliktfeld, das man nur mit Waffengewalt verändern könne. Deswegen sollten sich alle Schüler, die für den Weltfrieden seien, bei der Bundeswehr melden. Am nächsten Tag kam ein Mann in Zivil. Er berichtete ebenfalls von einer Welt voller Konflikte, meinte aber, dass man diese ohne Waffen viel besser lösen könne. Er selbst sei früher bei der Bundeswehr gewesen, und dort habe es ihm überhaupt nicht gefallen. Anschließend mussten alle Schüler einen Aufsatz darüber schreiben, wie sie sich den Weltfrieden wünschten – mit oder ohne Waffen. Das war der erste Aufsatz, den unsere Gasttochter auf Deutsch und fast ohne Fehler verfasste.
    »Ich meine«, schrieb sie, »Deutschland muss eine Bundeswehr haben, um Fanatiker zu bekämpfen. Wenn die Fanatiker wissen, dass ihr Feind Waffen hat, werden sie an ihren Plänen zweifeln und aufgeben. Ein Argument dagegen ist das Risiko, dass ein Fanatiker die Bundeswehr leiten und selbst einen Krieg anzetteln wird. Trotzdem sehe ich nur zwei Varianten: A) Alle Länder werden keine Armee haben. B) Alle Länder werden eine Armee haben. Da der erste Punkt nicht passieren kann, muss der zweite Punkt passieren.«
    Die anderen Schüler hatten andere Meinungen dazu, aber alle in der Klasse fanden diesen Weltfriedenszirkus sehr unterhaltsam und wünschten sich, dass beim nächsten Mal beide Männer – der mit und der ohne Uniform – zusammen auftraten.
    In den ersten Wochen hatte es Ina nicht leicht, Freunde zu finden. Die deutschen Mitschüler benahmen sich ihr gegenüber zwar durchaus freundlich, hatten aber auch ohne Ina in der Pause immer genug zu tun. Anders als in Russland brachten sie viel zu essen mit in die Schule und nutzten jede freie Minute, um sich ihren belegten Brötchen zu widmen. Kaum klingelte die Schulglocke, gingen sie auf den Hof, jeder mit seinem eigenen Brötchen in der Hand. Danach schauten sie noch in der Mensa vorbei, um sich mit Bratkartoffeln und Suppe zu stärken. Einige besonders Schlaue schafften es sogar, während des Unterrichts lautlos weiterzuessen. Dieses ständige Essen befremdete Ina.
    Eine erste Annäherung an die russischen Sitten war die Schul-Punkband »The Fünf Schrauben aus Timbuktu«. Auch in Russland hat jede Schule, die etwas auf sich hält, mindestens eine Punkband. An Inas Schule in Nischni Nowgorod hatte die Punkband sogar einen ähnlich bescheuerten Namen. Sie hieß »Drei Schüsse nach Feierabend« und spielte auch ähnliche Musik: laut und angeberisch. Die Freundschaft mit der deutschen Punkband brachte neue Farbe in Inas Leben. Das Telefon klingelte von da an immer öfter, und eine unbekannte freche Stimme fragte: »Is Inaa daa?«
    Sie ging mit ihren neuen Freunden in irgendwelche Jugendklubs, immer dann, wenn »The Fünf Schrauben« auftraten. Zum Glück spielten sie nicht oft. Auf unsere Forderung, spätestens um dreiundzwanzig Uhr zu Hause zu sein, antwortete Ina, sie würde allein den Weg nicht finden, und die Punks könnten sie erst um drei nach Hause bringen, so lange hätten sie zu tun. Auf unsere Frage, wie das Konzert war und ob die musikalische Punk-Leistung auf der Höhe der Zeit lag, reagierte sie sehr dezent mit einem Kopfnicken.
    Einmal in der Woche machte Ina selbst Musik. Als Gastkind war ihr die Pflicht zum Chorsingen auferlegt worden: jeden Mittwoch um siebzehn Uhr in Steglitz. Alle Schüler aus Russland mussten dort an dem Programm »Junge Russen singen deutsche Lieder« teilnehmen, um das traditionelle Liedgut des Gastlandes kennenzulernen. Zur Auswahl standen unter anderem »O wie wohl ist mir am Abend«, die deutsche Nationalhymne sowie das Lied »Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad«. Von der Hymne standen allerdings nur die ersten vier Zeilen zur Verfügung. Auf die Frage der Schüler, wieso die deutsche Hymne so kurz sei, meinte der Dirigent, früher sei sie erheblich länger gewesen, aber nach dem Krieg hätten die Alliierten sie stark gekürzt. Am liebsten sangen die Russen das Lied von der Oma mit dem Motorrad.
    Während der Chorstunden tauschten sie untereinander ihre Erfahrungen mit den Gasteltern aus. Ein Mädchen erzählte, in ihrer Familie

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