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Salve Papa

Salve Papa

Titel: Salve Papa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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auswählte. Nicht nur gute Noten und Deutschkenntnisse seien erforderlich, er pflege mit den ausgewählten Schülern auch dreitausend Meter zu laufen, wobei die Kinder den Doktor überholen müssten. »Ich will ehrgeizige, zielstrebige junge Menschen fördern«, meinte er, »kein Mensch braucht dicke Mädchen!« Das fanden wir sehr ungerecht und sagten, wir würden gerne ein dickes Mädchen bei uns aufnehmen. Alle lachten. Zwei Monate später rief uns Dr. Goebel an und sagte: »Das dicke Mädchen ist da, es kommt am Sonntag um sechs Uhr früh mit dem Bus.« Er schicke uns schon mal ihre Bewerbungsunterlagen. Das Mädchen hieß Ina und ging in Nischni Nowgorod in die zehnte Klasse.
    Aufmerksam studierten wir die Bewerbungsunterlagen unseres russischen Gastkindes. Ina beschrieb sich selbst als »kontaktfreudig, aufgeschlossen und zielbewusst«. Sie war mit ihren echten Eltern schon dreimal im Ausland gewesen, einmal in Prag und zwei Mal auf Zypern. Sie konnte singen, malen und schwimmen und sie hatte sieben Jahre lang Musik- und Tanzunterricht gehabt. In einem Extrablatt mit »Verhaltensempfehlungen für Gasteltern« stand, wir sollten dem Kind unbedingt wichtige Aufgaben übertragen, zum Beispiel sollte es Rasen mähen, Brötchen holen oder leere Flaschen wegbringen. Es dürfe nicht nach Hause telefonieren und nicht mit dem Fahrrad auf der Autobahn fahren. »Das Kind muss sich an die fremden Sitten gewöhnen, an deutsche Ordnung und Pünktlichkeit.« Ich bekam ein mulmiges Gefühl. Unsere Familie war dafür eigentlich nicht deutsch genug. Wir essen keine Brötchen und haben nicht mal einen Rasen! Für einen Rückzieher war es jedoch zu spät.
    Am verabredeten Sonntag beobachteten wir am Omnibusbahnhof die beeindruckenden Ausmaße der Vereinsarbeit von Dr. Goebel. Hunderte von Gasteltern aus ganz Deutschland warteten auf sechs Busse mit Kindern aus ganz Russland, die alle mehrstündige Verspätung hatten.
    Außer normalen Durchschnittseltern standen neben uns auch echte Hooligan-Eltern aus Cottbus, die trotz der frühen Stunde schon einen Sechserpack Schultheiß intus hatten. »Dat machen wir jedes Jahr mit«, erzählten sie. Auch gab es einen ganz kleinen Gastvater, der beinahe schon ein Liliputaner war. Jede Stunde kam ein Bus mit Kindern, und alle rannten hin.
    Unsere Ina kam erst mit dem fünften Bus. Sie war überhaupt nicht dick, dafür aber sehr bestimmend.
    »Hoffentlich bist du nicht enttäuscht, in einer russischen Familie in Berlin zu landen«, sagte meine Frau zu ihr.
    »Darüber bin ich sogar sehr froh«, antwortete das Mädchen. »Dann muss ich den deutschen Humor nicht ertragen.«
    Ina erzählte uns, bei ihr im Bus wären Jungs gewesen, die rauchten, schimpften und die Mädchen anmachten. Das wäre doch was für Cottbus, dachte ich. Und so geschah es auch. Die Hooligan-Eltern bekamen die Hooligan-Kinder zugeteilt, der ganz kleine Gastpapa bekam jedoch ein riesengroßes Kind.
    Anfangs war unsere Ina schweigsam, verschlossen und desorientiert. Auf alle Fragen über ihre Heimat und ihr früheres Leben zeigte sie uns nur eine Packung Ansichtskarten von Nischni Nowgorod mit schönen restaurierten Kirchen und Naturlandschaften. Auf diesen Postkarten sah ihre Stadt aus wie ein wahres Paradies.
    Wir meldeten Ina am Heinrich-Schliemann-Gymnasium an, einer Schule mit Schwerpunkt Fremdsprachen. Die gestresste Direktorin wollte zuerst nichts von irgendwelchen Gastkindern wissen und verjagte uns aus ihrem Büro. Nach einem kurzen Telefonat mit Dr. Goebel wurde sie aber überaus gastfreundlich und hilfsbereit. Dr. Goebel hatte es mit Direktorinnen einfach drauf.
    Die deutsche Schule kam bei Ina sehr gut an. Vor allem war sie von der lässigen Art des Lernens überwältigt. Sie meinte, die Zehntklässler würden hier mit einem Schulprogramm konfrontiert, das man in Russland bereits in der siebten Klasse durchgenommen habe. Im Matheunterricht suchte man hier noch nach der richtigen Formel, um die Fläche einer Pyramide zu errechnen. Unser Kind spuckte die Formel nach kurzem Zögern einwandfrei aus, alle waren begeistert. Als sie aber erzählte, dass man bei ihr in der Schule in Mathe die Rechner nicht benutzen dürfe, staunte die ganze Klasse. In Biologie lernten sie gerade Wichtiges über Zellen, aber in einer quasi kinderfreundlichen Fassung und ohne den unnötig komplizierten chemischen Hintergrund. Im Chemieunterricht experimentierte der Lehrer mit drei Haaren eines langhaarigen Schülers, die er in einem Glas

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