Salzburger Totentanz
Salchenegger saß am Ufer gegenüber der Altstadt und genoss die kühle Brise, die vom Fluss zu ihr aufstieg. So recht hatte sie keinen Blick für den Zauber dieses Nachmittags und für das berühmte Panorama. Ein makelloser Sommerhimmel wölbte sich über Salzburg und ließ den Regen vor drei Tagen wie eine fast verblasste Erinnerung erscheinen. Die Festung leuchtete hell in der Augustsonne herüber, und die weißen Möwen tanzten wie Lichtpunkte über der Salzach. Hinter dem Mozartsteg zückten wie immer zahlreiche Touristen ihre Kameras für ein Erinnerungsfoto. Seit fast einer halben Stunde saß sie nun schon hier und wartete. Sie trommelte mit den Fingern auf die blaue Zeichenmappe, die auf ihrem Schoß lag.
Ein junger Mann mit dunklem Lockenkopf saß ein paar Meter unterhalb von ihr am Wasser und hielt die eindrucksvolle Kulisse auf seinem Zeichenblock fest. Er drehte sich zu ihr um. Seine schwarzen Augen glitten ungeniert über sie hinweg und blieben schließlich an der Mappe hängen. Michaela wandte sich ab. Sie hoffte, der Mann würde ihre Geste verstehen und sie in Ruhe lassen.
Die Glocken der Altstadt begannen zu läuten. Schon vier Uhr. Wo blieb Hans bloß? Neulich Abend war er doch so erpicht auf seine Zeichnungen gewesen, und jetzt, wo sie seine Mappe gefunden hatte, ließ er sich alle Zeit der Welt. Schließlich hatte sie noch einiges vor und konnte nicht endlos warten, bis er irgendwann auftauchte.
Michaela spielte mit den roten Baumwollbändern, die die Mappe zusammenhielten. Sie blickte noch einmal zur Uferpromenade hinauf, konnte aber zwischen all den Spaziergängern, Radfahrern und Touristen Hans’ untersetzte Gestalt nicht entdecken. Schließlich knüpfte sie die Bänder auf. Der Herr Künstler würde schon nichts dagegen haben. Außerdem hatte Hans die Mappe ja auch ihrem Vater gezeigt.
Die Mappe enthielt drei großformatige Skizzenblätter. Michaela breitete die Bögen vor sich aus. Auf den ersten Blick erkannte sie nur eine Unmenge sorgfältig gezeichnete kleine Tiere, deren Umrisse an den Papierkanten scheinbar willkürlich abgeschnitten waren. Erst als sie die Zeichnungen nebeneinanderlegte, begriff sie, dass die Blätter zusammengehörten. Genau. Hans hatte etwas von einem Triptychon gesagt.
Die mittlere Zeichnung zeigte eine Ansicht von Salzburg, doch schien sich die markante Silhouette der Stadt aus phantastischen Bauten zusammenzusetzen, die, scharfkantig aus dem Fels wachsend, in den Himmel strebten und dem Betrachter auf den ersten Blick zwar vertraut, bei näherem Hinsehen aber völlig fremd waren. Aus einem flachen Brunnen auf der rechten Zeichnung tranken weiße Hirsche, ein Einhorn und andere Fabelwesen. Hell und irgendwie lieblich, wie ein Bild aus einem irdischen Paradies sahen sie aus. Doch dann bemerkte sie die toten Fische, die in dem Teich auf dem linken Skizzenblatt trieben. Ein monströses Bestiarium kroch aus den trüben Fluten auf den hellen Sandstrand, an dem die gräuliche Stadt lag. Reptilienhafte Fabeltiere, eine dreiköpfige Eidechse und ein mehrschwänziges Schnabeltier, Schlangen und Skorpione.
Mit zunehmendem Widerwillen ließ Michaela ihren Blick über die Zeichnungen wandern.
»Mais c’est merveilleux!«
Michaela sah erschrocken auf. Neben ihr stand der junge Mann, seinen Zeichenblock in der Hand, und sah lächelnd auf sie herab.
» Vous comprenez? Sie verstehen?« Er deutete mit seinem Stift auf die Zeichnungen. »C’est très bien! C’est un vrai ‘ieronymus Bosch.«
Michaela starrte auf die Zeichnung und dann wieder in das runde Gesicht des Mannes, das einem italienischen Fresko zu entstammen schien.
»Was haben Sie gesagt?«, fragte Michaela. »Bosch? Sie kennen ihn, den Maler … Hans Bosch?«
»Natürlich, ‘ieronymus, ‘ieronymus Bosch«, sagte der Fremde.
»Sie meinen Hieronymus Bosch, den berühmten Maler?«
»Mais oui« , antwortete er und nickte mehrmals.
»Nein«, entgegnete Michaela. »Das ist von Hans Bosch, verstehen Sie? Hans Bosch.«
Der Franzose schüttelte den Kopf und lächelte.
Michaela schob die Blätter zusammen. Hätte sie doch nie einen Blick auf diese Zeichnungen geworfen. Im Grunde hatte sie nie darüber nachgedacht, was in Hans vorging. Jetzt fragte sie sich, ob er wirklich nur der nette Dicke aus dem Institut war, oder ob es da nicht noch eine dunkle, ihr bisher verborgene Seite in seinem Inneren gab.
Der junge Mann ging in die Hocke und reichte ihr seinen Skizzenblock, als ein Schatten über sie fiel. Die
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